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Ausgangsport - Shadowrun-Saarbruecken - Beschreibung
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28
März
2011

Verraten und verkauft - Teil 3

Kapitel 3: Jäger und Sammler

Wie erstarrt saß Bo an die Wand gelehnt da und starrte auf die entsetzliche Szenerie vor sich. Der Körper des Ghuls lag auf die Seite gekippt ein paar Meter von ihm entfernt auf der Erde. Teile des Schädels, der ausgerissene Arm und die schreckliche riesige Keule lagen verstreut umher, während sich eine Lache aus hellem Blut schnell ausbreitete.
In seinem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung und blickte sich mit fast katatonischer Langsamkeit um. Vor ihm stand eine vollständig verhüllte Gestalt, die ein Großes Gewehr über die Schulter gelegt hatte, aus dessen Lauf sich eine dünne Rauchfahne kräuselte, und streckte ihm eine Hand entgegen. Sein Retter wirkte genauso riesenhaft wie zuvor der Ghul, verströmte aber keinerlei bedrohliche Ausstrahlung. Die Kleidung, in die er gehüllt war, war in schwarz gehalten und mit grauen Flecken übersät, die aber kein Schmutz waren, sondern wohl ein Tarnmuster sein sollten. Neben dem Gewehr führte die hochgewachsene Gestalt noch mehrere andere Waffen, wie Pistolen in Schulter- und Hüftholster, ein großes Messer in einer Scheide am Stiefelschaft und einige Granaten, die an einem Brustgurt zusammen mit einigen Munitionsclips befestigt waren. Das Gesicht wurde von einer Sturmmaske verdeckt, über dem der Riese einen leichten militärisch aussehenden Helm trug, der anscheinen auch über optische und akustische Verstärker verfügte, denn er hatte ein dunkel verspiegeltes Visier, integrierte Ohrenstutzen und eine Einfassung für Kinn-Partie und Mund.
„Was ist jetzt? Willst du ewig da sitzen bleiben,“ die Stimme des Fremden war elektronisch verzerrt und sehr schwer einzuordnen. Der Tonfall war im besten Falle ungeduldig, wenn nicht sogar etwas misstrauisch.
Bo schüttelte seine Starre ab und ergriff die Hand, die ihn daraufhin mit Leichtigkeit in die Höhe zog. Als er aufrecht vor der Gestalt stand, sah er erst richtig, wie groß der Mann wirklich war. Er selbst war für sein Alter nie besonders groß gewesen, aber diesem Fremden reichte er nur bis knapp über die Gürtellinie. Der Fremde griff sich unters Kinn, löste einen Riemen und zog den Helm vom Kopf.
Das Gesicht, dass darunter zum Vorschein kam, gehörte keinem Riesen in voller Kampfmontur, sondern einer jungen Frau von höchsten 30 Jahren. Sie hatte asiatisch anmutende Gesichtszüge und trug ihr glattes schwarzes Haar zu einem langen Zopf gebunden, der ihr jetzt über eine Schulter nach vorne fiel. Aber was auch immer sie war, sie war auf jeden Fall viel größer, als ihre zierlichen Züge vermuten ließen. Zuerst dachte er, er stünde vielleicht einer Elfe gegenüber. Von Elfen wusste er, dass sie teilweise ein gutes Stück größer werden konnten, als Menschen. Aber die junge Asiatin hatte keine erkennbar spitzen Ohren, die nun einmal das offensichtlichste Erkennungsmerkmal des elfischen Metatyps waren. In ihm keimte ein Verdacht, den er aber so noch nicht zulassen konnte und den er ohne Beweis und vor allem mindestens eine brauchbare Erinnerung nicht zulassen würde.
Sie griff in eine der Taschen ihres Kampfanzuges und förderte eine dunkle Brille zutage, die sie aufsetzte und an der ein kleiner Lichtpunkt sichtbar wurde. Offensichtlich handelte es sich dabei um eine Restlichtverstärkerbrille. Aber warum brauchte sie die Brille. Der Hof war zwar düster, aber nicht so dunkel, dass man auf Technologie angewiesen gewesen wäre, um sich zu orientieren. Sein Verdacht bekam neue Nahrung, die er gierig verschlang und zu wachsen begann. Die Frau stützte den Helm in die Hüfte, blickte zu ihm herunter und schüttelte den Kopf.
„Ist diese Gegend nicht ein Wenig zu gefährlich, um sich alleine hier herum zu treiben? Und dann noch in deinem Alter. Wie alt bist du mein Junge? Und wie kommst du an einen Ort wie diesen,“ ohne seine Antwort abzuwarten schritt sie an ihm vorüber, ging neben der enthaupteten Leiche des Ghuls in die Hocke und nahm ihren Rucksack vom Rücken, dem sie Gummihandschuhe, ein Desinfektionsspray mit Lappen, einige Messer, Plastikbeutel und Glasröhrchen entnahm. Den Helm stülpte sie dabei über ihr Knie und legte das Gewehr quer über ihre Bein. Sie schnitt einige Brocken Fleisch aus dem, was einmal der Hals des Infizierten gewesen war und ließ sie in ein paar der Beutel gleiten, den sie verschloss. Dann fing sie an, Blut in die Glasröhrchen zu füllen und verkorkte sie sorgfältig. Dann desinfizierte sie die Röhrchen und die Beutel, verstaute alles wieder in ihrem Rucksack und warf die Handschuhe und den Lappen danach achtlos von sich.
„Ich habe dich was gefragt Kleiner,“ sagte sie mit ungeduldigem Tonfall, während sie sich erhob und den Rücksack wieder schulterte.
Bo wollte ihr antworten, doch etwas hielt ihn zurück. Zum Einen war es der pure Ekel davor, was die Frau da an der Leiche gemacht hatte und zum Anderen war es dieser Verdacht, der seinen Verstand immer noch im Griff hatte.
„Du bist für einen Zwerg deines Alters aber ganz schön weit von zuhause weg. Hast du dich verlaufen? Ihr kleinen Leute seid schon ein eigenartiger Haufen. Wahrscheinlich bist du grade bei einer Mutprobe oder? Ich hoffe, du weißt, wie dumm es ist, sich alleine in dieser Gegend rumzutreiben,“ sie tippte sich mehrmals mit dem Lauf des Gewehres auf die Schulter, „es sei denn, man hat tatkräftige Verstärkung. Bei euch Zwergen wird Mut zwar echt groß geschrieben, aber dich ohne Aufsicht hier herumlaufen zu lassen, ist nicht grade clever. Komm mit Kleiner. Ich werde dich bis zur Stadtgrenze zurückbringen.“
Sie wandte sich der Straße zu und ging ein paar Schritte, bis sie bemerkte, dass Bo wie angewurzelt stehengeblieben war.
„Zwerg,“ murmelte er vor sich hin und betrachtete dabei seine Arme, die er vor sich ausstreckte. Dann vor er sich erneut über die eigenartigen Stoppeln an seinem Kinn und ließ den Blick nach unten zu seinen Beinen schweifen. Plötzlich ergaben all die merkwürdigen verwirrenden Sinneseindrücke, mit denen er sich hatte auseinandersetzen müssen, eine Sinn.
Er durchforstete seine Erinnerungen nach allem, was er über Zwerge wusste und versuchte es mit seiner momentanen Lage zu vergleichen.
Zwerge erreichten ausgewachsen eine Körpergröße von etwa 120 Zentimetern. Wenn diese Frau in Wahrheit gar keine Riesin war, so musste er tatsächlich in etwa die Größe eines Zwerges haben, in Anbetracht ihres Größenunterschiedes. Was er ebenfalls wusste war, dass Zwerge über eine natürliche Infrarotsicht verfügten, was das seltsame Licht um ihn herum erklären würde und die Tatsache, dass er sehen konnte, obwohl seine Retterin auf die Zuhilfenahme von Restlichtverstärkern angewiesen war. Gedankenverloren fuhr er sich an Nase und Ohren. Tatsächlich war seine Nase etwas vergrößert und breiter, als er sie in Erinnerung hatte und seine Ohren wiesen beide deutlich zu erfühlende Spitzen auf.
Erneut streckte er die Arme aus und schaute auch an sich herunter. Zwerge waren nicht wirklich einfach kleinere Ausführungen des Homo sapiens. Lediglich ihre Beine waren kürzer, während ihr Brustkorb und allgemein ihre ganze Statur eher stämmiger waren, als bei einem Norm. Obwohl er selbst noch ein Kind und grade erst an der Schwelle zum Erwachsenwerden war, wirkte sein Brustkorb schon breiter als der der Frau in voller Panzermontur. Auch seine Arme wirkten stärker, als sie bei einem Norm seines Alters sein konnten.
Aber in den Fetzen, die ihm noch von seinen Erinnerungen an sich und seine Familie übrig geblieben waren, hatte er sich eindeutig als Homo sapiens wahrgenommen. Seines Wissens nach, war die Verwandlung eines Menschen in eine Metaform, etwa durch die Goblinisierung oder durch UGE, in seinem Alter nicht ungewöhnlich. Allerdings hatte er nur von wenigen Fällen gehört, in denen sich derjenige in einen Zwerg verwandelt hatte. Zwerge wurden gewöhnlich als solche Geboren, sei es von Zwergeneltern, aber auch gelegentlich von menschlichen Eltern.
Das vermehrte Auftreten von genetischer Neustrukturierung eines Menschen, dass seit Anfang des Jahrhunderts bekannt war und das mit der als Erwachen bekannte Rückkehr der Magie in die Welt einher ging, war allerdings auch dafür bekannt, dass eben so gut wie nichts darüber bekannt war.
Wissenschaftler arbeiteten seit Jahren daran, hinter die Geheimnisse zu kommen, die seit über zwei Jahrzehnten das Antlitz der Erde so nachhaltig verändert hatten.
Das Auftreten magischer Ströme hatte nur den Auftakt bedeutet. Die Menschheit, oder besser ein kleiner Teil davon, hatte zwar gelernt, dieses Phänomen zu nutzen, aber seinem Ursprung war man noch nicht auf die Spur gekommen. Dazu kam die Entwicklung der Menschheit zur sogenannten Metamenschheit. Vor zwanzig Jahren begannen normale Menschen plötzlich Kinder zu bekommen, die Zwergen oder Elfen glichen. Diesem Vorgang, den man als UGE bezeichnete, folgte eine weitere Welle einschneidender Veränderungen, als Menschen wiederum bei Eintritt in die Pubertät plötzlich eine tiefgreifende körperliche Metamorphose durchliefen, aus der sie in Gestalt dessen hervorgingen, das heute als Trolle und Orks bekannt war. Die Veränderungen schienen rein zufällig und ohne erkennbares vorhersagbares Muster abzulaufen, jedoch verliefen die Ergebnisse der Wandlung immer gleich aus. Daraus gingen die Metatypen des Homo sapiens hervor. Elfen, Zwerge, Trolle und Orks ihrerseits vermehrten sich wie zuvor gewöhnliche Menschen und erhielten so im Laufe der Zeit ein eigenes Rassenbewusstsein. Und obwohl Menschen durch UGE lediglich Zwerge oder Elfen gebaren und Trolle und Orks aus der Goblinisierung hervorgingen, gab es auch vereinzelte Fälle von Zwergen oder Elfen, die durch eine Goblinisierung entstanden waren und Trollen oder Orks, die von menschlichen Eltern empfangen worden waren.
Die Welt folgte keinem nachvollziehbaren wissenschaftlichen Rahmen der Evolutionstheorie mehr, wie es schien. Auch im Tierreich waren innerhalb kürzester Zeit neue voll entwickelte Spezies aufgetaucht, die sich in so kurzer Zeit auf dem der Menschheit bekannten Weg der Evolution hätten entwickeln können.
Und wie, um dem ganzen noch die Krone aufzusetzen, waren überall auf der Welt Drachen erwacht, die anscheinend seit Jahrtausenden eine Art Winterschlaf gehalten hatten, um auf die Rückkehr der Magie zu warten und sich erneut zu erheben.
Hatte Bo wirklich eine Goblinisierung durchlaufen? War das vielleicht der Grund für seine bruchstückhafte Erinnerung? Aber wie war er dann alleine hierher geraten? Seines Wissens nach waren die Opfer der Goblinisierung während des ganzen Vorgangs allerhöchstens sehr kurzfristig bei Bewusstsein. War er hier zum Sterben abgeladen worden? Wenn ja, von wem? Sein Vater selbst war aktiver Magier gewesen und hatte seinen Bruder und ihn immer zu geistiger Offenheit und Toleranz erzogen. War es möglich, dass er seinen Sohn verstoßen würde, da dieser nun kein Mensch mehr war? Aber, wie hatten seine Eltern sonst zulassen können, dass er hier gelandet war?
Der große schwarze SK Tuareg bog von der Hauptstraße ab und fuhr auf eine der zahlreichen Rampen zu, die die verschiedenen Ebenen des Plexteils miteinander verbanden.
Die Straße, die sie auf direktem Weg nach Essen und damit nach Hause geführt hätte, war voller Demonstranten, die gegen irgendetwas protestierten und Polizisten, die versuchten, die Meute im Zaum zu halten.
„Warum haben wir nicht einfach gewartet, bis sie weiterziehen, Charles? Mir ist nicht wohl hier unten,“ flüsterte Susanne mit besorgter Miene, in der Hoffnung, dass ihre Söhne davon nichts mitbekamen.
„Die Stimmung war sehr gereizt, mein Engel. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Situation da oben eskalieren wird. Die Aura der Polizisten war zu angespannt, als dass nicht einer von ihnen gleich einen dummen Fehler machen wird. Ich will weder dich noch die Jungs in eine Straßenschlacht führen. Solange wir nicht weiter nach unten müssen, sollte das Ganze auch kein größeres Problem werden. Von dem kleinen Umweg abgesehen, läuft noch alles wie geplant,“ er versuchte, eine tiefe Zuversicht in seine Worte zu legen, die seine Frau aber wohl durchschaute und ihn mit einem Stirnrunzeln bedachte.
Aber, wie um Charles Rengars Worte zu unterstreichen, fiel hinter ihnen ein Schuss. Bo und Luke zerrten an ihren Sitzgurten, bis sie sich soweit umdrehen konnten, dass sie aus der Heckklappe des SUV sehen konnten. Was sie sahen, erschreckte die Jungen.
Polizei und Demonstranten stürmten aufeinander ein, wobei sich jede Partei aller ihr zur Verfügung stehen Mittel bediente, die andere zu überrollen. Die Polizisten waren in vorderer Front mit schweren Schilden und Knüppeln dabei, die ersten Reihen der Angreifer abzufangen, während die Beamten in den hinteren Reihen die Menge mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen unter Feuer nahmen.
Die Demonstranten ihrerseits begannen damit, Steine nach den Polizisten zu werfen und nicht wenige von ihnen waren bewaffnet und eröffneten ihrerseits das Feuer.
Ein Querschläger traf die Tunnelwand genau in dem Moment, in dem der Wagen die Rampe erreichte und das Tageslicht hinter sich ließ. Charles erhöhte das Tempo des Wagens gerade soweit, wie es die enge Kurvenführung der spiralförmig in die Tiefe führenden Fahrbahn zuließ.
Die Strecke schien sich ins Unendliche zu dehnen und kein Ende nehmen zu wollen. Einige Windungen über ihnen erreichte der Tumult den Eingang des Tunnels, von dem sich die Polizisten wohl eine leichter zu verteidigende Stellung erhofften. Stattdessen zerbrach ihre Reihe aber und die beiden Schlachtreihen verschmolzen zu einem allumfassenden Chaos. Der Lärm von Schüssen, kleineren Explosionen und Schreien erfüllten die von wenigen Lampen erleuchtete Dunkelheit des Ebenenübergangs. Immer häufiger fielen Tote und lebende Körper an ihnen vorbei, die Mitte des Schachtes hinunter. Manche davon schienen sich in ihr Schicksal bereits ergeben zu haben, andere schrien nach Kräften und wieder andere feuerten aus blanker Dickköpfigkeit heraus weiter nach oben in die Menge.
„Los Liebling. Fahr schneller,“ Susanne starrte mittlerweile ohne zu zwinkern aus dem Seitenfenster den Schacht hinauf und zuckte sichtbar unter jedem Schuss zusammen. Charles konzentrierte sich und beschleunigte den Wagen noch weiter, als plötzlich ein Körper eine halbe Windung vor ihnen auf die Fahrbahn stürzte.
Es handelte sich dabei um einen massiv gebauten Troll in einem alten verdreckten Mantel mit einem unablässig feuernden Sturmgewehr in der einen und einer Sprenggranate in der anderen Hand. Bei seinem Aufschlag verstummte das Gewehr und mit einem hellen Pling sprang der Sicherungsbügel von der Granate. Der Troll blickte zu dem Tumult hinauf, der sich den Gang immer weiter nach unten verlagerte und lächelte, als die Granate detonierte.
Fluchend stieg Charles mit aller Kraft auf die Bremse und brachte den Wagen unmittelbar an der Stelle zum stehen, an dem die Granate die Fahrbahn in die Tiefe gerissen hatte.
„Los, alle raus hier,“ schrie er, entledigte sich eilig seines Sicherheitsgurtes und sprang aus dem Wagen. Susanne und die beiden Jungen folgten ihm und einige Sekunden später standen sie alle vor dem Wagen und schauten in das Dunkel unter sich. Der Spalt, den die Granate hinterlassen hatte war, bis zu der Stelle, an der die Fahrbahn unbeschädigt weiterging, gute zehn Meter breit.
„Was sollen wir jetzt machen Charles,“ Verzweiflung hatte Susannes Stimme gepackt und sie blickte unstet zwischen dem Loch vor ihnen und dem Kampf, der sich ihnen von hinten näherte, hin und her.
„Ich bringe euch da rüber. Wartet nicht auf mich, sondern verschwindet so schnell ihr könnt. Seht ihr die Klappe an der Wand da hinten,“ er deutete auf eine kleine Wartungstür in der Schachtwand etwa fünfzig Meter von ihrer jetzigen Position entfernt,“ dahinter ist ein Wartungsschacht mit einer Leiter, die euch zur Oberfläche bringt. Versucht, euch von dieser sogenannten Demonstration zu entfernen und nehmt euch ein Taxi nach Hause. Ich treffe euch dann dort.“
„Und wie willst du,“ Susanne blickte erschrocken ihren Mann an, der sie aber unterbrach, indem er sie fest in den Arm nahm und sie küsste. Dann sah er Luke tief in die Augen und sprach ihn mit ruhiger fester Stimme an.
„Pass gut auf deine Mutter und deinen Bruder auf, mein Junge. Wir sehen uns heute Abend zu Hause,“ mit diesen Worten hob er seine Arme in die Luft und murmelte einige unverständliche Worte.
Bo, Luke und ihre Mutter wurden emporgehoben und glitten langsam durch die Luft über den Abgrund hinweg. Bo war der erste, der die andere Seite erreichte und wieder Boden unter die Füße bekam. Als er sich umdrehte konnte er einige Polizisten sehen, die, sich während des Rennens ständig umdrehend und feuernd, auf seinen Vater zuliefen, der immer noch mit erhobenen Armen und geschlossenen Augen dastand.
Dann geschah das Unfassbare. Die Demonstranten, die die Polizisten verfolgten feuerten mehrere ungezielte Salven nach ihren vermeintlichen Opfern, die jedoch schlecht gezielt waren.
Mehrere der Schüsse, die ihre eigentlichen Ziele verfehlten, trafen seinen Vater in den Rücken, der unter den Einschlägen heftig schwankte und die Augen öffnete.
Auch seiner Frau war das nicht entgangen, denn sie schrie etwas Unverständliches. Charles Lippen formten noch die Worte, es tut mir leid, als er sich umdrehte und aus einer Hand einen blendend hellen Blitz auf die Angreifer schoss. Dann war alles vorbei, denn eine Kugel traf ihn genau in den Kopf. Bo, sein Bruder und ihre Mutter schrien wie aus einer Kehle seinen Namen, während er hintenüber geworfen wurde und unter ihnen in der Dunkelheit verschwand.
Mit ihm verschwand auch die Wirkung des Zaubers, mit dem er seine Familie über den Abgrund levitiert hatte. Bo warf sich nach vorne zu Boden und streckte seinem Bruder seine Hand entgegen. Als dieser sie ergriff zog ihn der Ruck über die Kante der Fahrbahn und er konnte sich nur durch Glück an einem der verbogenen Eisenträger festklammern, die aus den Rändern der Wunde ragten, die die Explosion gerissen hatte. Er schreib vor Schmerz laut auf, als das Gewicht seines Bruders voll zum Hängen kam. Doch die pure Verzweiflung und Wut über den Tod seines Vaters ließ ihn standhalten.
Seine Mutter hing noch einen Wimpernschlag schwerelos genau in der Luft, bevor auch sie von den Folgen der Schwerkraft eingeholt wurde und zu stürzen begann.
Luke streckte einen Arm nach ihr aus, ohne darüber nachzudenken, ob sein Bruder sie beide und ihre Mutter würde tragen können, doch er konnte ihre Hand nicht erreichen, denn sie zog sie vor ihm zurück. Sie war wohl der Meinung, dass sie sonst ihre Söhne mit sich in den Tod reißen würde.
Und so mussten die Jungen mit ansehen, wie ihre Mutter dem Schicksal ihres Vaters folgte und unter ihnen verschwand.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Seine Eltern waren tot. Deshalb hatten sie ihn nicht beschützen können. Sie würden ihn nie wieder beschützen können. Er war alleine auf dieser Welt und das unwiderruflich.
Und als wäre das nicht genug, musste er sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass er nicht einmal mehr ein Mensch war. Nicht nach den Maßgaben, die ein Leben lang für ihn Gültigkeit gehabt hatten.
Mit einem Stöhnen sank er gegen die Wand.
„Alles in Ordnung Kleiner,“ in der Stimme der Frau lag echte Besorgnis. Sie maß Bo mit einem langen Blick und schloss dann die Augen, ohne ihr Gesicht von ihm abzuwenden. Als sie die Augen wieder öffnete hatten sich tiefe Falten auf ihrer Stirn gebildet, die ihre Restlichtverstärkerbrille tief auf ihre Nase drückten. Sie schob sie mit einem Finger wieder nach oben, kam auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Du bist gar nicht von hier mein Junge, oder?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Aber, wie bist du dann hier unten gelandet,“ in einiger Entfernung die Straße hinunter wurden einige Tonnen umgeworfen. Dann ertönten schrille Schreie, die von dumpfem Stöhnen.
Die Frau wirkte sofort alarmiert. Sie sprang auf, verstaute die Brille wieder in der Tasche, setzte den Helm wieder auf und nahm das Gewehr, von der Schulter in beide Hände.
„Darum müssen wir uns später kümmern Kleiner. Jetzt müssen wir erst einmal sehen, dass wir hier verschwinden. Halt dich dicht hinter mir und versuch, leise zu sein.“
Sie schob sich an die Ecke des Hofes, lief dann zum Ausgang zur Straße und spähte um die Ecke in die Richtung, aus der die Geräusche gekommen waren. Ohne den Blick zu ihm zu wenden, gab sie ihm ein Zeichen, zu ihr zu kommen und sich hinter ihr an die Wand zu drücken.
„Sieht aus, als bekämen wir Gesellschaft. Der Freak da hinten,“ sie deutete über die Schulter in Richtung des enthaupteten Ghul-Körpers, „nur der Wächter des Nests gewesen.“
Erst jetzt fiel Bo auf, dass überall auf dem Hof verteilt kleinere und größere Ansammlungen von Knochen herumlagen. Hier und da waren heruntergebrannte Feuerstellen, um die Berge aus Decken und alten Kleider lagen. Eigentlich war sofort erkennbar, dass das nicht das Zuhause eines Einzelnen Individuums war.
Die Frau schob ihn mit einem Arm hinter ihren Rücken und zog sie beide hinter ihrer Deckung heraus auf die Straße. Nun konnte auch Bo die Quelle der Schrei ausmachen.
Das alte verrostete Schild, das wohl einst einmal Blau und Weiß gewesen war, wies Die Straße als Bembergstraße aus. Also musste es tatsächlich die unterste Ebene von Wuppertal sein. Alle Straßen auf den über ihnen liegenden Ebenen waren nummeriert und trugen keine Straßennamen. Doch hier im ursprünglichen Wuppertal der Jahrtausendwende, hatte sich niemand mehr die Mühe gemacht, alles zu modernisieren. Die ganze Stadt war überbaut und dann schlicht vergessen worden.
Etwa hundert Meter die Straße hinauf hatten etwa zehn Ghuls anscheinend eine Gruppe von Obdachlosen überfallen und waren damit beschäftigt, ihre Opfer zu durchsuchen und begannen noch vor Ort damit, sie anzunagen. Der Anblick war grauenhaft. Hinter ihnen endete die Straße machte die Straße nach etwa weiteren hundert Metern eine leichte Kurve und endete an einer T-Kreuzung, die in eine Brücke mündete. Die andere Seite der Kreuzung war hinter einigen baufällig aussehenden Gebäuden verborgen.
Seine Begleiterin begann, ihn in Richtung der Kreuzung zu schieben und bedeutete ihm mit einem Finger an den Lippen, still zu bleiben. Bo wandte sich von den schrecklichen Kreaturen ab und schlich die Straße entlang, wobei er immer versuchte die Deckung von Abfallhaufen, Mülltonnen und Autowracks zu nutzen. Seine Beschützerin hingegen ging rückwärts in der Mitte der Straße und hielt das Gewehr auf die drohende Gefahr gerichtet.
Ein Wenig wunderte er sich, warum sie so wenig Wert darauf legt, in Deckung zu gehen. Er wollte sie fragen, beschloss aber, damit lieber zu warten, bis sie in Sicherheit waren.
Kurz bevor sie die rettende Straßenecke erreicht hatte, beschlossen die Ghule offenbar, ihre Mahlzeit in ihrem Nest fortzusetzen, denn einige von Ihnen schulterten die Leichen und die Gruppe kam auf sie zu. Natürlich sahen sie die Frau, die in einiger Entfernung zu ihnen, rückwärts die Straße entlang ging.
Einer von ihnen, ein besonders großes Exemplar seiner abstoßenden Subspezies, gab ein paar gutturale Laute von sich. Er trug als einziger in der Truppe einen reichen Halsschmuck, der sogar aus der großen Entfernung eindeutig als menschliche Überreste zu erkennen war, was ihn wohl als Anführer der Gruppe kennzeichnete.
Die Asiatin schien zu dem selben Schluss gekommen zu sein, denn sie legte an, zielte sorgfältig und gab einen krachenden Schuss ab, der die Bestie genau zwischen die Augen traf. Als ihr Anführer nach hinten umkippte, während sein Gesicht sich in einer Wolke aus Blut, Gewebefetzen und Knochensplittern auflöste, war die Wut der Ghule entfesselt. Diejenigen, mit den Leichen über der Schulter rannten zu der Ecke, die in ihr Nest führte und verschwanden darin, während der Rest sich nach vorne beugte, bis ihre unnatürlich langen Arme den Boden fanden, und auf allen Vieren auf sie zu gerannt kam.
„Lauf Kleiner. Zur Brücke,“ schrie sie Bo zu und eröffnete das Feuer auf die Ghule. Diese waren aber nicht so leicht zu treffen, denn sie erwiesen sich als überaus wendig und konnten mit ihren krallenbewehrten Händen und nackten Füßen sogar kurze Strecken an den seitlichen Wänden der Häuser zurücklegen, von denen sie sich dann mit großen Sprüngen abstießen, und mit einigen Rollen durch die Luft wirbelten, bevor sie auf den Füßen aufkamen und ungebremst weiter rannten.
Wütend wechselte die Asiatin das Magazin ihres Gewehrs und feuerte weiter. Die Meute kam immer näher und sie hatte nur wenige von ihnen ernstlich verletzen können. Schließlich wechselte sie die Strategie. Sie ließ den Unterlauf-Granatwerfer ihrer Waffe einige Geschosse verschießen, warf die Waffe dann beiseite und griff über die Schulter auf ihren Rücken.
In einer fließenden Bewegung riss sie eine langes gebogenes Schwert aus seiner Scheide, dessen Klinge auf seltsame Art von innen heraus in einem grünlichen Licht zu erstrahlen schien. Bo blieb fasziniert stehen und betrachtete die Waffe. Er bemerkte, wie sein Nackenhaar sich sträubte. Seine Retterin war offenbar eine Magierin. Diese Aufladung in der Luft hatte er schon einmal gespürt. Wenn sein Vater seine Magie eingesetzt hatte, hatte er auch fühlen können, wie sich die Macht um ihn zusammenzog.
„Zieh dich an mir hoch. Ich kann uns nicht mehr lange halten.“
Tränen liefen an Bos Wangen herunter, die sich zu gleichen Teilen aus Schmerz aller erdenklichen Arten zusammensetzten. Sein Arm schmerzte so sehr, dass er fürchtete, er würde abreißen. Und der Tod seiner Eltern innerhalb eines Augenblickes hatte ihn emotional getroffen, wie die Granate zuvor die Straße.
Luke, der immer noch in den Abgrund starrte, erwachte aus seiner Starre und griff nach den Eisenstreben über sich. Als er eine davon zu greifen bekam, zog er sich daran empor über die Kante der Straße, legte sich auf den Bauch und zog seinen Bruder nach oben.
Als Bo auf dem Bauch in Sicherheit lag, mischte sich Wut in seinen Schmerz, der schnell zu rasendem Hass heranwuchs. Er sprang auf und rannte zu dem Schnellfeuergewehr des Trolls, dass jetzt herrenlos auf der Straße lag. Ohne genau zu wissen, was er eigentlich tat, nahm er es auf, rannte zurück an die Kante, richtete die Waffe aus und zog den Abzug.
Eine lange donnernde Salve aus Hochgeschwindigkeitsgeschossen ergoss sich aus dem Lauf, deren schierer Kraft der Junge nichts entgegenzusetzen hatte. Der Lauf wurde nach oben und er von den Beinen gerissen. Da erschien sein Bruder neben ihm und trat ihm die Waffe aus der Hand. Luke ergriff ihn am Arm und zerrte ihn auf die Beine.
„Hör auf damit. Wir müssen hier verschwinden. Du hast gehört, was Dad gesagt hat. Ich soll auf dich aufpassen. Los komm.“
„Auf mich aufpassen? Und was ist mit Mum?Auf die hast du auch aufpassen sollen und jetzt ist sie tot. Genau wie Dad. Was spielt es noch für eine Rolle, was,“ Luke gab Bo eine schallende Ohrfeige. Tränen liefen auch an seinen Wangen herab, während er ihn aus geröteten glasigen Augen ansah.
„Vielleicht hat Dad es noch geschafft, ihren Sturz abzufangen. Du weißt, wie gut er in solchen Dingen ist. Vielleicht sind die beiden schon auf dem Weg zurück nach Hause. Wir sollten jetzt machen, dass wir hier wegkommen.“
„Auf dem Weg nach Hause? Du hast genauso gut wie ich gesehen, was passiert ist.“
„Du kennst Dad. Manchmal sieht man genau das, was er will das man sieht. Und jetzt komm,“ er schulterte das Gewehr und zog seinen Bruder von der Unglücksstelle weg zu dem Wartungsschacht.
Er öffnete die kleine Tür und schob seinen kleinen Bruder hindurch zu der Leiter, die sie an die Oberfläche führen würde. Zurück in Sicherheit.

Dann erreichten die ersten der Monster die schlanke Frau, die breitbeinig und mit erhobenem Schwert auf der Straße ihren Ansturm erwartet hatte.
Bo wollte ihr eine Warnung zurufen, als die Klaue eines Ghuls seitlich auf ihren Kopf zuschoss, doch das war nicht nötig. Mit einer geschmeidigen Bewegung, die Bo in einer solchen Perfektion noch nie gesehen hatte, ließ sie ihren Oberkörper nach hinten unter dem Schlag hindurchkippen und trat dabei mit einem Bein nach vorne aus, wobei sie einen ihrer Gegner mit solcher Wucht unter dem Kinn traf, dass dieser regelrecht nach hinten geschleudert wurde und sein Genick hörbar brach. Jetzt drehte sich ihr Oberkörper um seine Achse, wobei sie auf der Zehenspitze eines Fußes balancierte und das Bein, mit dem sie gerade zugetreten hatte, immer noch waagrecht in der Luft stand. Ihre Arme spreizte sie dabei vom Körper ab und beschrieb einen weiten Bogen mit ihrem Schwert, der den Angreifer, unter dessen Schlag sie sich geduckt hatte knapp über der Hüfte sauber in zwei Hälften trennte.
Jetzt, da sie mit dem Gesicht nach unten auf einem Bein stand, ließ sie sich nach hinten auf das abgespreizte Bein kippen, dass die Wucht abfing und sie sauber nach hinten in einen Spagat gleiten ließe, gerade rechtzeitig, um unter dem Sprung eines Ghuls wegzutauchen, dem sie von unten das Schwert in den Bauch rammte.
Mit einer wirbelnden Drehung, bei der sie mit Schwert und gestrecktem Bein alle Angreifer ein Stück weiter auf Distanz drängte, war sie wieder auf den Beinen.
Sie warf ihr Schwert in die Höhe, griff hinten unter ihren Rucksack und zog zwei leichte Maschinenpistolen darunter hervor. Mit ausgebreiteten Armen beschrieb sie einen fast vollständigen Kreis mit dem Feuer der Waffen, der ausschließlich Bos Position aussparte. Als die Magazine leer waren, ließ sie die Waffen fallen, schlug ein Rad nach hinten und fing in einer lässigen Bewegung ihr Schwert.
Innerhalb von kaum mehr als drei oder vier Sekunden, hatte sie die Gruppe der Ghuls um drei verkleinert, die tot auf dem Boden vor ihr legen und fast alle anderen mehr oder minder schwer verletzt.
Die Monster schienen einen Moment über ihren nächsten Schritt nachzudenken, entschieden dann aber wohl, dass die Mahlzeit, die ihre Kameraden eben ins Nest geschleppt hatten, eine weit sicherere wäre, denn sie dreht auf den Absätzen herum und schienen sich ein wahres Wettrennen zu ihrem Unterschlupf zu liefern.
Der Todesengel in schwarz seufzte und schob das Schwert zurück in seine Scheide. Dann hob sie ihre herumliegenden Waffen auf, verstaute die Maschinenpistolen wieder in ihren Holstern und hängte das Sturmgewehr über die Schulter.
Dann griff sie erneut in ihren Rucksack und kramte Beutel und Röhrchen hervor, die sie mit einigen Proben der Ghule füllte, sorgfältig säuberte und in den Rucksack steckte.
Als sie ihre Prozedur beendet hatte, wandt sie sich wieder Bo zu.
„Wie sollten zusehen, dass wir hier verschwinden. Ghule sind zwar sehr leicht einzuschüchtern, aber wenn sie sich davon erst erholt haben, werden sie erst recht sauer sein. Dann haben wir es nicht mehr so einfach. Komm mit.“
Sie ging lässig an ihm vorbei und trat auf die Kreuzung hinaus. Ein alles übertönender Gestank nach Fäule lag in der Luft, der einem den Atem raubte. Unter der Brücke floss ein Strom aus Abfall und schwarzem Wasser durch die unterirdische Stadt.
Die Frau, die ein paar Schritte vor ihm herging, faszinierte Bo. Sie vereinte eine Grazie und ein sanftes Wesen, für das ihre Art sprach, mit ihm umzugehen, mit einer kompromisslosen Tödlichkeit eines Auftragsmörders. Außerdem war sie ganz offensichtlich eine aktive Magierin, obwohl der exzessive Gebrauch von Waffengewalt, dessen er grade Zeuge geworden war, untypisch für einen Magier. Sie war eine Einheit der Gegensätze.
„Woher kommst du Kleiner,“ fragte sie, ohne sich umzudrehen. Bo war einerseits fast froh, dass sie scheinbar an einem Gespräch interessiert war, denn es gab einiges in seinem Kopf, worüber er sich jetzt keine Gedanken machen wollte, aber andererseits gehörten Fragen zu seiner Person eben genau zu diesen Themen.

22
März
2011

Verraten und verkauft - Teil 2

Kapitel 2: Hunger

Bos Gedanken überschlugen sich, während er versuchte, seine Gesamtsituation zu rekapitulieren. Er war verletzt und durch die Nachwirkungen von etwas, dass sich wie eine starke Droge anfühlte, desorientiert. Darüber hinaus befand er sich vermutlich an einem der gefährlichsten Orte für einen Menschen, den es geben konnte und war, bis auf ein Messer, mit dem er vermutlich nicht besonders gut umgehen konnte, unbewaffnet.
Außer an seinen Namen und einige Details aus seiner Vergangenheit erinnerte er sich an nichts, was wohl auch auf die Droge zurückzuführen war. Wenigstens in diesem Punkt bestand also Hoffnung, dass sich sein Zustand in absehbarer Zukunft bessern würde.
Ob er diese Zukunft noch erleben würde, war die andere Frage. Denn er befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach unter dem Teil des Rhein-Ruhr-Megaplexes, der als Zombie Town bekannt war und fast ausnahmslos von MMVV-Infizierten bewohnt war. Zwar konnte er sich im Bezug auf seinen Aufenthaltsort nicht sicher sein, aber ein recht guter Anhaltspunkt saß ein paar Meter entfernt von ihm auf dem Boden, grunzte und verspeiste ein menschliches Bein.
Der Ghul war sehr groß und kräftig gebaut. Seine haut war blass und von unzähligen nässenden Wunden übersät, die man durch seine in Streifen an ihm herunterhängende Kleidung, gut sehen konnte. Er hatte zwar nur einen Arm, aber dieser hatte sicherlich den Durchmesser von Bos Oberkörper. Der andere Arm hing an zerfetztem Gewebe und schwärendem eitrigem Fleisch leblos herab. Offensichtlich handelte es sich dabei um ein abgestoßenes Cyberimplantat. Von dem Wesen ging ein scharfer Verwesungsgeruch aus, der einem den Atem rauben und den Magen umkrempeln konnte.
Wenn das richtig war, woran sich Bo über Ghule erinnerte, steckte er noch tiefer in der Klemme, als er zuerst befürchtet hatte.
Ihm wurde schlagartig bewusst, wer er war. Er war ein 13 Jahre alter Junge, der sich einem Monster aus eben den Gruselgeschichten gegenüber sah, die er sonst so gerne gelesen hatte. Wie war er nur in diese Situation geraten?
Auch die Antwort auf diese Frage musste leider noch warten und sich den Erfordernissen seiner aktuellen Situation unterordnen. Fast musste er lächeln, als ihm auffiel, dass sein Vater stolz auf ihn gewesen wäre, hätte er diesen Gedankengang mitbekommen.
Seine Aufmerksamkeit verlagerte sich wieder auf den Ghul und sein Verstand arbeitete die Liste der Fakten durch, die ihm über diese Spezies zur Verfügung standen. Ghule waren Opfer des Menschlich-Metamenschlich-Vampirischen-Virus. Die Krankheit war vor etwa 10 Jahren entdeckt worden. Seit dem Erwachen hatte die Welt immer mehr das Gesicht einer Sagenwelt angenommen, die Menschen Jahrtausende lang als Mythen und Aberglauben abgetan hatten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch, war die Magie in die Welt zurückgekehrt und mit ihr auch viele dieser sogenannten Mythen. Einer dieser Mythen war das Auftauchen von Vampiren und anderen Menschenjägern. Darunter waren auch Ghule. Über diese zombieartigen Kreaturen war noch sehr wenig bekannt. Was man jedoch wusste war, dass sie ähnlich wie die anderen Infizierten Subspezies, eine Allergie gegen Sonnenstrahlung und Silber aufwiesen. Diese Tatsache brachte ihn in der momentanen Lage aber kein Stück weiter. Auch bekannt war, dass Ghule in Rudeln lebten und jagten. Das führte ihn zu zwei Möglichkeiten. Die erste war, dass jeden Augenblick noch mehr Ghule hier auftauchen konnten. Das waren keine rosigen Aussichten, aber noch nicht der schlimmste Fall. Er hatte auch Berichte über Ghule gelesen, die als Absolute Einzelgänger lebten und ihre sozialeren Brüder und Schwestern sowohl in körperlicher Stärke, aber auch in Aggressivität und Hunger noch bei weitem übertrafen. In diesem Fall würde Bo vermutlich als schneller Snack zwischendurch enden, wenn ihm nichts einfiel.
Wenn er sich nicht irrte, waren Ghule so gut wie blind, also konnte er vielleicht versuchen, sich an ihm vorbei zu schleichen, ohne bemerkt zu werden. Der Plan wirkte verrückt, war aber doch besser, als zu versuchen, sich mit dem Messer einen Weg zu erkämpfen.
Er danke seinem Vater dafür, dass er ihn, soweit er sich erinnern konnte, so verantwortungsbewusst und rational erzogen hatte. Während andere Kinder gespielt hatten, hatte er in seiner Kindheit auf Geheiß seines Vaters Bücher gelesen und erste kleine naturwissenschaftliche Berichte studiert. Seinem Vater war nicht daran gelegen gewesen, ihn in eine berufliche Richtung zu drängen, hatte aber immer betont, wie wichtig es für ihn einst sein würde, mehr über die Welt zu wissen, als andere. Auch, wenn er als Kind darüber oft geflucht hatte und nur zögerlich Folge geleistet hatte, zahlte sich das Wissen nun tatsächlich aus. Allerdings war akademisches Wissen in Momenten wie diesem auch nicht eben die ganze Miete.
All seinen Mut zusammennehmend zwängte er sich durch den schmalen Spalt an der Tür vorbei. Fünft Stufen unter ihm lag ein länglicher Innenhof, der mit Müll und menschlichen Überresten übersät war. Scheinbar lebte der Ghul, der auf dem Boden am Fuße der kurzen Eingangstreppe hockte, hier schon längere Zeit.
Sein Verdacht, sich zumindest in der Nähe Ghul Towns zu befinden erhärtete sich, als er nach oben blickte. Statt eines Himmel wurde der Hof von einem gigantischen Gewölbe überspannt, was auch die Tatsache erklärte, dass kein Licht durch die Oberlichter der Fabrikhalle zu sehen gewesen war. Nach etwa 50 Metern knickte der Hof nach rechts ab und er konnte eben noch eine Straße erkennen, die von flackernden Laternen spärlich beleuchtet wurde. Seinen Studien über den Megaplex zu folgen, musste er sich auf Ebene 1 befinden, also über dem eigentlichen Ghul-Gebiet. Was er vor sich sah, waren die Überreste des ursprünglichen Gelsenkirchen, dessen obere Ebenen dem Megaplex angehörten. Ghul Town selbst war wenig mehr, als die Kanalisation der früheren Stadt. Ein dunkles Wirrwarr aus Kanälen und Tunneln.
Wenn er es lebendig bis zur Straße schaffte, hatte er vielleicht doch noch eine Überlebenschance. Innerlich fluchend quetschte er sich unter dem Geländer der Treppe hindurch und ließ sich seitlich davon zu Boden. Irgendwie musste er zugenommen haben. Das Geländer sollte normalerweise für einen Jungen seines Alters kein ernsthaftes Hindernis darstellen. Wie so oft in der jüngeren Vergangenheit schob er diesen Umstand auf die Nachwirkungen dessen, was mit ihm geschehen war und der Desorientierung.
Behutsam schob er sich vorwärts, bis er über die Stufen blicken konnte. Der Ghul saß mit dem Rücken zu ihm und war immer noch lautstark mit seiner ekelerregenden Mahlzeit beschäftigt.
Ein paar Meter vor ihm stand ein großer metallener Müllcontainer, der ihn vor den Blicken des Ghuls verbergen sollte, für den Fall, dass seine Informationen über dessen annähernde Blindheit sich als falsch erweisen sollten.
Ohne es zu merken, hielt er die Luft an und schlich an der Wand entlang auf den Metallbehälter zu.
Während er sich tief in den Schatten duckte, den der Container im schwachen, flackernden Licht warf, das in den Hof drang, fiel ihm das erste Mal bewusst auf, dass er eigentlich unter diesen Bedingungen nichts hätte sehen dürfen. Und doch konnte er von seiner Deckung aus fast den gesamten Hof überblicken. Alles schien für ihn in warme Rot- und Brauntöne getaucht zu sein, während die Wände der Gebäude, die um ihn herum aufragten, das Licht förmlich zu schlucken schienen und tiefschwarz wirkten. Auf den ihren Oberflächen konnte er aber so etwas wie dunkelblaue Schlieren erkennen, die auf eigenartige Weise in Bewegung zu sein schienen. Auch in der Luft über ihm bewegten sich eigenartige Wolken von unterschiedlicher Helligkeit. Irgendetwas schien an seinen Augen merkwürdig zu sein, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Wenn er es nicht schaffte, sich aus seiner Deckung bis an die Ecke zu schleichen, an der der Hof in Richtung Straße abknickte, war überhaupt nichts mehr wichtig.
So leise wie möglich verließ er seine Deckung und kroch mehr, als dass er aufrecht ging auf einen Stapel halb verrotteter Kartons zu, die an der gegenüberliegenden Häuserwand aufgetürmt waren. Wenn er sie erreichen konnte, würde er in ihrem Schutz bis an die nächste Ecke und damit in Sicherheit kommen. Wenn der Ghul sich nicht in diesem Augenblick umsehen würde, konnte er ihn eigentlich kaum noch entdecken.
Er konnte sein Glück kaum fassen, als er sah, dass der Ghul sich zwischenzeitlich umgedreht hatte und großes Interesse an der verkeilten halb geöffneten Tür zeigte, durch die Bo eben das Gebäude verlassen hatte. Da er ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, richtete der Junge sich etwas weiter auf und ging einen Schritt schneller auf das nächste Versteck zu. Als er es erreichte und sich dahinter wieder duckte, scheuchte er dabei einige Ratten auf, die sich lautstark über die Störung beschwerten und über den Hof zu schwirren begannen.
Der Ghul schien das Interesse an der Tür zu verlieren und wandte sich einigermaßen schwerfällig zu der Quelle des Lärms um. Für einen Moment stand er einfach still da. Bo, der innerlich fluchend in seinem Versteck hockte und versuchte keinen Laut zu verursachen, lauschte angestrengt auf Reaktionen des Monsters.
Mit einem Mal griff der Ghul sich einen nagelbewehrten Knüppel, der sicherlich fast so groß war wie Bo, setzte sich in Bewegung und rannte auf seine Deckung zu.
Sein erster Hieb schleuderte den Großteil der Kartons in alle Richtungen davon und die riesige Keule pfiff wenige Zentimeter über Bos Kopf hinweg. Der Junge warf sich herum und versuchte ungeschickt, sich in die Höhe zu stemmen. Dabei glitt er ungeschickt auf einem Stück Karton aus, auf das er dabei einen Fuß setzte. Jetzt laut fluchend rutschte er ab und rollte zur Seite, was ihm erneut das Leben rettete. Der Schlag der Keule, der unmittelbar neben ihm senkrecht von oben geführt den Boden traf, war mit einer solchen Gewalt geführt, dass sogar die unbändige Kraft des Ghuls nicht ausreichte, die Keule zu halten. Sie sprang ihm aus der Hand und rollte polternd ein paar Meter zur Seite.
Sein eigenes Ungeschick schien die Raserei des Ungetüms nur noch zu verstärken, den er stieß einen gurgelnden Schrei aus, bei dem ihm eitriger Geifer aus dem Maul am Hals herunter ran und warf sich mit einem hängenden und einem zupackenden Arm auf den Jungen. Er unterschätzte dabei aber eindeutig seine eigene Geschwindigkeit, denn seine Attacke ging wieder ins Leere. Bo hatte den Zeitpunkt des Zupackens abgeschätzt und war mit einer Rolle rückwärts zwischen den Beinen des Ghuls hindurch ausgewichen. Jetzt da er hinter dem Ghul auf dem Rücken lag, während dieser breitbeinig und weit nach vorne gebeugt dastand, sah er seine Chance. Mit aller Kraft trat er mit beiden Beinen nach der linken Kniebeuge des Infizierten. Diese Attacke hätte seinen Gegner zu Boden befördern müssen und ihm die Chance zur Flucht ermöglicht, wenn seine Beine nicht eigenartigerweise viel kürzer waren, als er kalkuliert hatte. Wenigstens konnte er den Schwung des Angriffs dazu nutzen, schwankend auf die Beine zu kommen und sich von hinten gegen seinen Gegner zu werfen, so dass dieser zu schwanken begann.
Bo drehte sich zur Seite weg und duckte sich unter dem brachial nach hinten geführten Schlag hinweg, mit dem sein Angriff beantwortet wurde und schaffte es ein paar Meter Distanz zwischen sich und sein Gegenüber zu bringen. Der Ghul, der durch Bos Rempler und die Wucht seines eigenen Schlags sichtlich mit dem Gleichgewicht kämpfte, würde noch ein oder zwei Sekunden brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Diese Zeit musste einfach genügen. Bo rannte so schnell er konnte auf den Ausgang des Hofes zu, als er hinter sich ein feuchtes schmatzendes Krachen hörte. Als er sich im Laufen umdrehte, konnte grade noch sehen, wie der Ghul sich selbst seinen ohnehin funktionslosen Arm heraus riss und ihn ihm hinterher schleuderte. Aus einer Distanz von wenigen Metern war jeder Versuch, dem wirbelnden Geschoss auszuweichen, zum Scheitern verdammt, als versuchte Bo sich bestmöglich auf den Aufprall vorzubereiten. Der Schlag, mit dem der metallene Arm ihn traf, war allerdings weit mehr, als sein geschwächter Körper zu verkraften imstande war. Er hatte sich in den Wurf hinein gedreht und versucht, den Arm an sich vorbei zu stoßen. Die Kraft des Aufpralls jedoch ließ seine Arme einknicken, wodurch der Arm ihn voll in die Magengrube traf, ihm alle Luft aus den Lungen presste und ihn rücklings zu Boden schleuderte.
Für eine Sekunde tanzten bunte Lichter vor seinen Augen und er rang um Luft. Als seine Sicht sich wieder klärte, stand der Gegner bereits über ihm.
In Panik schob er sich rückwärts, bis er plötzlich mit dem Rücken an einer Wand stieß. Hier war seine Flucht wohl beendet. Der Ghul beugte sich sabbernd über ihn und wollte ihn packen. Bo stieß einen Angstschrei aus uns riss dabei die Arme vors Gesicht.
Dann geschah etwas, dass die Ereignisse der letzten Zeit fast schon als gewöhnlich hätte erscheinen lassen können. Er spürte ein Kribbeln in seinen Armen, dass sich in seinen Fingerspitzen zu konzentrieren und zu verstärken schien. Dann sah er kurz ein blendendes Licht durch seine geschlossenen Lider und roch einen scharfen Geruch, der nur von verbranntem Fleisch herrühren konnte und mit einem starken Beigeruch von Ozon durchsetzt war.
Als er die Augen öffnete sah er, wie das Ungeheuer sich an die Brust griff und einige Schritte von ihm weg taumelte, während es schmerzerfüllte und angsteinflössende Schreie von sich gab. Das Bild verschwamm für einen Wimpernschlag vor seinen Augen und er spürte Schweißperlen auf seiner Stirn. Mühsam stemmte er sich an der Wand hoch und merkte, was für weiche Knie er hatte. Doch die Panik verlieh ihm neue Kraft. Das Monster hatte entschieden, dass es mit einer Mahlzeit im Bauch auch noch weiter über die erlittenen Schmerzen würde nachdenken können und kam wieder auf ihn zu.
„In Deckung, Junge,“ Bo hatte Schwierigkeiten einzuordnen, von wo genau der Ruf gekommen war, aber er ließ sich instinktiv auf die Knie fallen und rollte sich an der Wand entlang von dem Ghul weg.
Dessen Aufmerksamkeit verlagerte sich jetzt auf ein Ziel, dass sich offenbar hinter Bo befand. Er beugte sich nach vorne, bleckte seine Zähne und stieß erneut einen markerschütternden Schrei aus.
Im selben Augenblick wurde das Wesen durchgeschüttelt und überall auf seiner Brust begannen kleine Blutfontänen zu tanzen. Der furchteinflößende Ton in seiner Stimme verwandelte sich mit einem Mal in Panik und Schmerz. Er versuchte der Gefahr zu entkommen, indem er sich umwand und auf den metallenen Container zu wankte, der kurz zuvor noch Bo als Deckung gedient hatte.
Dann ertönte ein sattes Ploppen und der Kopf des Ghuls zerbarst in einer amorphen Wolke aus Splittern und Blut, als die Granate in ihn einschlug. Der Körper streckte noch einen Moment lang die Hand der rettenden Deckung entgegen, ging dann aber in die Knie und kippte zur Seite um.
Auch, wenn er nicht mehr daran geglaubt hatte, war Bo tatsächlich gerettet worden. Jedenfalls fürs Erste.

21
März
2011

Verraten und verkauft - Teil 1

Kapitel 1: Allein in der Dunkelheit

Wuppertal, 21. September 2045

Ganz langsam und zäh wie ein dickflüssiger Sirup glitt das Bewusstsein in seinen Körper zurück. Lange Zeit lag er einfach nur da und versuchte, die wirren Eindrücke ein wenig zu sortieren.
Es gab einiges, an das er sich erinnerte, aber zwischen den Informationsfetzen klafften große Lücken, so dass es sehr schwer war, darin eine Art Gesamtbild zu erkennen.
Nach einer Weile gab er frustriert den Versuch auf, Ordnung in das Chaos zu bringen, dass in seinem Kopf herrschte. Statt ohne Anhaltspunkte in dem Herumzustochern, was ihm von seiner Vergangenheit geblieben war, lenkte er seine Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt. Auch da sah die Situation für ihn wenig angenehmer aus.
Seine Glieder schmerzten erbärmlich, so als hätte er tagelang in einer Streckbank verbracht und sein Brustkorb fühlte sich an, als drohe er, von innen heraus zu platzen. Seine Haut schien an Dutzenden von Stellen aufgeschürft zu sein, so dass es allgemein schwer war, einen bestimmten Fleck zu erfühlen, von dem tatsächlich Schmerzen ausgingen. Und über all diesem Ungemach thronten unsägliche Kopfschmerzen, die ihn fast das bisschen Verstand zu kosten drohten, dass ihm noch geblieben war.
Obwohl Zeit für ihn im Moment eine nicht zu messende Größe darstellte, besorgte ihn aus irgendeinem Grund die Tatsache, dass er nicht wusste, wie lange und vor allem wo genau er gelegen hatte.
Als er sich unter Stöhnen auf den Bauch rollte und sich auf Hände und Knie hoch drückte, war er überrascht, wie leicht das für ihn war.
Er versuchte die Augen zu öffnen, bereitete sich aber darauf vor, sie sofort wieder zu verschließen. Als der erwartete Schmerz ausblieb, blinzelte er ein paar Mal und öffnete schließlich ganz die Augen.
Der Schmerz, den er erwartet hatte war ausgeblieben, da der Raum um ihn herum fast vollkommen Dunkel war. Bei genauerem Betrachten, erwies sich die Dunkelheit auf eine schwer greifbare Art als eigenartig. Es war, als entstamme das schwache Licht, dass den Raum um ihn herum erfüllte aus einem Spektrum, dass er in seinem Leben noch nie zuvor gesehen hatte. Außerdem konnte er es keiner bestimmten Quelle zuordnen, da er in seinem Blickfeld nichts ausmachen konnte, dass in irgendeiner Weise dazu geeignet schien, Licht zu verbreiten.
Dieser Absonderlichkeit folgte auch gleich die nächste. Vielleicht lag es an dem seltsamen Licht, in das der Raum getaucht war, aber irgendwie schien seine Perspektive falsch, als er sich mühsam auf die Beine quälte. Es wirkte fast so, als sei der Raum für Riesen gemacht worden und nicht für normale Menschen.
Er band sich scheinbar in einer alten Fabrikhalle. Der Boden war übersät mit Schmutz, Metallteilen, die anscheinend einmal die Funktion der zahllosen von Rost zerfressenen Maschinen gewährleistet hatten und alten Kartons, die größtenteils aufgerissen oder zerdrückt überall herumstanden. Über ihm liefen mehrere Stege und Galerien unterhalb der Decke entlang, die aber für eine normale Fabrik viel zu weit entfernt erschienen. Und auch die Türen an den Seiten, sowie das große Doppeltor an der ihm gegenüberliegenden Stirnseite der Halle, schienen eher für Titanen denn für Normalsterbliche gemacht worden zu sein.
An der Hallendecke waren reihenweise große Oberlichter, hinter denen er aber nur tiefe Schwärze erkennen konnte. Sie waren also auch nicht die Quelle des seltsamen Lichtes um ihn herum.
Verwirrt ging er ein paar Schritte in einer zufällige Richtung und fuhr sich mit den Händen durch Gesicht und Haar, um es etwas vom Staub zu befreien und klarer zu werden. Als seien die letzten Momente nicht schon überraschend genug gewesen, stellte er fest, dass seine Wangen und sein Kinn kurze Stoppeln aufwiesen, von denen er fast sicher war, dass sie nicht dahin gehörten. Auch die Kleidung, die er trug, kam ihm nicht im Geringsten bekannt vor. Es handelte sich um einen zerschlissenen orangefarbenen Overall und ein paar einfache schwarze Stiefel. Der Overall war an vielen Stellen gerissen und gewährte ihm ein paar Ausblicke auf die blauen Flecken und Aufschürfungen, von denen wohl ein Großteil seiner Schmerzen herrührte.
In den vielen Taschen fand er nichts, was Aufschluss auf seine Identität gab, oder ihm einen Anhaltspunkt darauf lieferte, wo er sich befand oder warum. Er fand lediglich ein scharfes Messer mit einer etwa handlangen doppelt geschliffenen Klinge in einer Tasche an seiner linken Wade, ein neu aussehendes Feuerzeug und eine gefaltete Karte des Rhein-Ruhr-Megaplexes in einer der Brusttaschen.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sein körperlicher Zustand zwar jämmerlich war, aber er wohl keine unmittelbar lebensbedrohlichen Verletzungen bei, was auch immer ihm widerfahren war, davon getragen hatte, entschied er sich, seine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen.
Er ging auf die erstbeste der alten Produktionsmaschinen zu und musste feststellen, dass sein Entfernungsempfinden wohl auch zu den Dingen gehörte, die irgendwie in Mitleidenschaft gezogen worden waren, denn er brauchte weit mehr Schritte, um sein Ziel zu erreichen, als er erwartet hatte.
Die Maschine war wohl einmal eine Art Abfüllmechanismus gewesen, denn sie war mit einigen Fließbändern verbunden. Heute jedoch war sie nichts weiter als ein großer Haufen Schrott. Die mechanischen Arme, die wohl einmal die Produkte in Position gebracht hatten, waren entweder verbogen, verrostet oder fehlten schlicht ganz. Eines der Fließbänder endete nach etwa 2 Metern einfach mitten in der Luft. Von dem Teil, der mit den losen Kabeln und den herabhängenden Antriebsketten verbunden gewesen war, fehlte jede Spur. Über der ganzen Apparatur lag eine dicke schmierige Schmutzschicht, die darauf schließen ließ, dass die Produktion in dieser Fabrik wohl schon vor sehr langer Zeit aufgegeben worden war.
Für eine Weile streifte er ziellos umher, fand aber weder wesentliche Anhaltspunkte auf den genauen Ort oder die Funktion der Anlage, noch irgendwelche Gegenstände, die sich irgendwie als verwertbar oder gar nützlich erwiesen. Also beschloss er, dass es an der Zeit war, diesen Ort zu verlassen. Zwar fühlte er sich immer noch benommen, aber irgendetwas in seinem Hinterkopf riet ihm zur Eile.
Da jede Tür so gut war wie die andere und er nicht glaubte, dass große Haupttor auch nur ansatzweise bewegen zu können, öffnete er wahllos eine der Türen neben der Maschine, die er zuerst untersucht hatte.
Dahinter lag einer schmaler dunkler Gang, der von demselben eigenartigen Licht erfüllt war, wie die Halle. Alles schien irgendwie in Fehlfarben dargestellt und von einer Quelle angeleuchtet zu sein, die von keinem bestimmbaren Ort auszugehen schien. Außerdem stank es geradezu erbärmlich nach Exkrementen und Tod in dem Korridor.
Für einen Augenblick erwog er, die Tür zuzuschlagen und einen anderen Ausgang zu suchen, entschied sich aber dagegen. Da er nicht ausschließen konnte, dass sich eine der anderen Möglichkeiten als bessere Wahl erweisen würde und er hier immerhin einen Weg gefunden hatte, der ihn weit von der Halle wegführte und von dem keine unmittelbare Gefahr auszugehen schien, unterdrückte er den jäh aufwallenden Brechreiz, der ihn erfasst hatte und ging ein paar schnelle Schritte in den Gang hinein.
In der Dunkelheit des Ganges verlor er schnell jegliches Zeit- und Entfernungsgefühl. Zu Beginn hatte er noch viele der Seitentüren des Ganges untersucht, doch irgendwann hatte er es aufgegeben. Viele der Türen waren entweder verschlossen oder ihre Schlösser und Scharniere waren so stark verrostet, dass sie sich einfach nicht öffnen ließen. Die wenigen Türen, die er auf bekam, führten lediglich in kleine Räume, die entweder leer oder über und über mit Müll vollgestopft.
Nachdem er sich entschlossen hatte, die Türen zu ignorieren, kam er um Einiges schneller voran, so dass er relativ schnell das Ende des Ganges erreichte. Nun stand er vor einer Glastür, die aber vor lauter Schmutz vollkommen undurchsichtig geworden war.
Als er die Klinke herunterdrückte, glitt die Tür zu seiner Überraschung tatsächlich, ohne großen Widerstand, einen Spalt weit auf und verkantete sich dann, so dass sie sich nicht mehr bewegen ließ.
Er zwängte seinen Kopf durch den Spalt, unterdrückte augenblicklich einen Schrei und zog sich hastig wieder zurück.
„Bo. Luke. Schnallt euch bitte endlich an, damit wir losfahren können,“ Bos Vater blickte die beiden streng durch den Rückspiegel an und startete den Motor des alten SK Tuareg. Die Mutter der beiden saß auf dem Beifahrersitz und kicherte still in sich hinein, da sie das Verhalten ihrer Söhne wohl eher belustigend denn störend fand.
Tatsächlich hingen die beiden über die Lehne der Rückbank halb im Kofferraum. Luke hatte dabei Bos Kopf unter seinem Arm eingeklemmt, während dieser wiederum dessen Bein umschlungen hielt und ihm den Fuß umdrehte, was seinem Bruder offenbar große Schmerzen bereitete, denn der Schweiß auf seiner Stirn schien nicht alleine von der Anstrengung herzurühren, seinen knapp 8 Jahre jüngeren Bruder im Schwitzkasten zu halten.
„Aber Dad, Bo hat angefangen. Er hat schon wieder...,“ mit einer Handbewegung brachte sein Vater ihn zum Schweigen und verwies die beiden erneut auf ihre Plätze.
Die beiden trennten sich voneinander und Luke gab Bo einen Schubs, der ihn auf seine Seite der Sitzbank warf, was dieser mit einem Tritt gegen Lukes Schienbein quittierte.
„Jetzt ist es genug ihr beiden. Das ist ja nicht zum Aushalten. Lernt, euch wie zwei anständige Heranwachsende zu benehmen. Vor allem du Luke. Versuch doch wenigstens mal für einen Moment, deinem Bruder ein besseres Vorbild zu sein. Was soll das nur werden, wenn du deine Ausbildung in zwei Monaten abgeschlossen haben wirst? Denkst du, der Konzern wird jemanden wie dich lange beschäftigen wollen? Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen“
Beleidigt lehnte Luke sich zurück, starrte demonstrativ aus dem Fenster und rieb sich das Schienbein.
Charles Rengar schüttelte noch einmal den Kopf und fuhr los. Seine Frau Susanne drehte sich grinsend zu ihren Söhnen zu, legte einen Finger über die Lippen und zwinkerte den beiden verschwörerisch zu. Die beiden schauten sich kurz gegenseitig an und mussten schließlich selbst grinsen. Wie so häufig galt der Hauptzweck ihrer Streiterei in erster Linie darin, ihren Vater an den Rand des Wahnsinns zu bringen.
Der schwarze Wagen löste sich vom Straßenrand und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein. Die Familie machte sich auf den Heimweg von einem Tagesausflug.
Obwohl Susanne Rengar die Saeder-Krupp-Arkologie in Essen ungern verließ und bei jeder Gelegenheit betonte, dass es dort auch alles gäbe, dass man sich draußen anschauen könne, nur eben in sauberer Ausführung, hatte sie doch wie immer letztendlich ihren Spaß gehabt. Susanne Rengar war ein geborenes Kind der Konzernkultur des 21. Jahrhunderts. Sie hatte praktisch ihr ganzes Leben im behütenden Schoß ihres Konzerns verbracht und von der Welt außerhalb der Mauern ihrer heimischen Arkologie wenig zu Gesicht bekommen.
Ihr Mann Charles war da anders. Er hatte während seiner Ausbildungszeit und späteren Berufsleben in mehreren Konzernen und etlichen Niederlassungen gearbeitet. Allgemein hin galt ein häufiges Wechseln des Arbeitgebers bestenfalls als unorthodox und führte meist in einer soziale Isolation und eine Karrieresackgasse. Konzerne vertrauten Konzernwechslern selten sensible Aufgaben an, es sei denn der Konzernwechsel wurde von ihnen selbst aus bestimmten Gründen veranlasst.
Da bildete Charles Rengar aber eine Ausnahme. Er war nicht nur ein naturwissenschaftliches Genie, sondern obendrein auch noch ein aktiver hermetischer Magier. Während andere nach Niederlegung eines Jobs schwere Probleme hatten, in der Konzernwelt wieder Fuß zu fassen, konnte er sich kaum vor Angeboten retten. Zu diesen Qualifikationen kam noch ein hohes Maß an Verschwiegenheit und eine Teamfähigkeit hinzu, die ihn auf dem Arbeitsmarkt zu einem sehr begehrten Gut machten.
Alleine die Tatsache, dass er bei Saeder-Krupp seine Frau kennengelernt hatte, hatte ihn seinerzeit dazu bewogen, sich dauerhaft bei dem Konzern niederzulassen.
So hatte er in der Hauptniederlassung des größten Konzerns der Welt eine dauerhafte Heimat gefunden, obwohl Deutschland für ihn dauerhaft eigentlich nie in Betracht gekommen war. Durch Katastrophen wie die schwarze Flut, den GAU im AKW Cattenom, sowie die Eurokriege und das Zersplittern der ehemaligen Bundesrepublik, war das Land arg in Mitleidenschaft gezogen worden und wirkte für ihn eigentlich nicht besonders attraktiv. Er selbst war gebürtiger Engländer und wie die meisten Briten seiner eigenen Heimat sehr zugetan. Aus Liebe zu seiner Frau jedoch hatten seine Prioritäten sich grundlegend geändert.
Deshalb regte er auch immer diese Ausflüge in andere Teile des Plexes oder gar noch weiter weg an. Wenn er schon in diesem Land lebte, sagte er immer, wolle er es sich auch mal aus der Nähe anschauen und sehen, was hinter dem Trideo noch alles sehenswert sei.
Und tatsächlich hatte er für das Land und seine Leute inzwischen eine tiefe Sympathie entwickelt. Gerade der Rhein-Ruhr-Megaplex vereinte derart viele Gegensätze in sich, wie kaum ein Gebiet. Hier lebten die Ärmsten der Armen direkt im Schatten der Neonlichter der großen Konzernarkologien. Einige Plex-Teile, wie eben das ehemalige Essen oder auch Bochum erstrahlten im Glanz des neuen Reichtums an Technologie und Kultur, dass die Welt des 21. Jahrhunderts bestimmte, während andere Gegenden wie Gelsenkirchen oder Wuppertal von Armut, Verzweiflung und Trostlosigkeit regiert wurden. Und mit der Armut ging die Kriminalität einher. Manche Orte wurden sogar von Polizei und Sicherheitsdiensten gemieden, wenn es sich irgendwie einrichten ließ.
Genau ein solcher Ort lag unmittelbar unter ihnen.
Nachdem das ehemalige Wuppertal in mehreren Ebenen vollständig überbaut worden war, hatten sich unter der Oberfläche mit ihren neuen Wohnsiedlungen und Einkaufszentren mehrere Schichten gesellschaftlichen Elends etabliert. Diese wurden umso schlimmer, je weiter man nach unten, in Richtung des als Ebene 1 bekannten ursprünglichen Wuppertals, vordrang. Gerüchten zufolge lag sogar darunter noch eine Ebene, die den inoffiziellen Namen Ebene 0, oder auch Zombie Town trug und überwiegend von MMVV-Infizierten war, jener mysteriösen Infektion, die Menschen und Metamenschen in fleischfressende Monstrositäten verwandelte, die das Sonnenlicht fürchteten und in der Nacht Jagd auf ihre ehemaligen Mitbürger machten.

Zombie Town. Dort musste er sein, wurde Bo klar. So wie er sich an seinen Namen und seine Familie erinnern konnte, war ihm auch klar geworden, wo er sich befinden musste. Der relativ sichere Beweis dafür hockte auf der anderen Seite der Tür, hinter der er sich jetzt versteckte und nagte an etwas, das wie ein metamenschlicher Beinknochen aussah.
Wenn er sich nicht in der als Zombie Town bekannten Ebene unter dem Teil des Rhein-Ruhr-Megaplexes befand, dann auf jeden Fall an einem Ort, der Ebene 0 sehr ähnlich war.

Bis dann. Und lass dich nie mit Drachen ein.

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