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Verraten und verkauft - Teil 2 |
Kapitel 2: Hunger
Bos Gedanken überschlugen sich, während er versuchte, seine Gesamtsituation zu rekapitulieren. Er war verletzt und durch die Nachwirkungen von etwas, dass sich wie eine starke Droge anfühlte, desorientiert. Darüber hinaus befand er sich vermutlich an einem der gefährlichsten Orte für einen Menschen, den es geben konnte und war, bis auf ein Messer, mit dem er vermutlich nicht besonders gut umgehen konnte, unbewaffnet.
Außer an seinen Namen und einige Details aus seiner Vergangenheit erinnerte er sich an nichts, was wohl auch auf die Droge zurückzuführen war. Wenigstens in diesem Punkt bestand also Hoffnung, dass sich sein Zustand in absehbarer Zukunft bessern würde.
Ob er diese Zukunft noch erleben würde, war die andere Frage. Denn er befand sich aller Wahrscheinlichkeit nach unter dem Teil des Rhein-Ruhr-Megaplexes, der als Zombie Town bekannt war und fast ausnahmslos von MMVV-Infizierten bewohnt war. Zwar konnte er sich im Bezug auf seinen Aufenthaltsort nicht sicher sein, aber ein recht guter Anhaltspunkt saß ein paar Meter entfernt von ihm auf dem Boden, grunzte und verspeiste ein menschliches Bein.
Der Ghul war sehr groß und kräftig gebaut. Seine haut war blass und von unzähligen nässenden Wunden übersät, die man durch seine in Streifen an ihm herunterhängende Kleidung, gut sehen konnte. Er hatte zwar nur einen Arm, aber dieser hatte sicherlich den Durchmesser von Bos Oberkörper. Der andere Arm hing an zerfetztem Gewebe und schwärendem eitrigem Fleisch leblos herab. Offensichtlich handelte es sich dabei um ein abgestoßenes Cyberimplantat. Von dem Wesen ging ein scharfer Verwesungsgeruch aus, der einem den Atem rauben und den Magen umkrempeln konnte.
Wenn das richtig war, woran sich Bo über Ghule erinnerte, steckte er noch tiefer in der Klemme, als er zuerst befürchtet hatte.
Ihm wurde schlagartig bewusst, wer er war. Er war ein 13 Jahre alter Junge, der sich einem Monster aus eben den Gruselgeschichten gegenüber sah, die er sonst so gerne gelesen hatte. Wie war er nur in diese Situation geraten?
Auch die Antwort auf diese Frage musste leider noch warten und sich den Erfordernissen seiner aktuellen Situation unterordnen. Fast musste er lächeln, als ihm auffiel, dass sein Vater stolz auf ihn gewesen wäre, hätte er diesen Gedankengang mitbekommen.
Seine Aufmerksamkeit verlagerte sich wieder auf den Ghul und sein Verstand arbeitete die Liste der Fakten durch, die ihm über diese Spezies zur Verfügung standen. Ghule waren Opfer des Menschlich-Metamenschlich-Vampirischen-Virus. Die Krankheit war vor etwa 10 Jahren entdeckt worden. Seit dem Erwachen hatte die Welt immer mehr das Gesicht einer Sagenwelt angenommen, die Menschen Jahrtausende lang als Mythen und Aberglauben abgetan hatten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts jedoch, war die Magie in die Welt zurückgekehrt und mit ihr auch viele dieser sogenannten Mythen. Einer dieser Mythen war das Auftauchen von Vampiren und anderen Menschenjägern. Darunter waren auch Ghule. Über diese zombieartigen Kreaturen war noch sehr wenig bekannt. Was man jedoch wusste war, dass sie ähnlich wie die anderen Infizierten Subspezies, eine Allergie gegen Sonnenstrahlung und Silber aufwiesen. Diese Tatsache brachte ihn in der momentanen Lage aber kein Stück weiter. Auch bekannt war, dass Ghule in Rudeln lebten und jagten. Das führte ihn zu zwei Möglichkeiten. Die erste war, dass jeden Augenblick noch mehr Ghule hier auftauchen konnten. Das waren keine rosigen Aussichten, aber noch nicht der schlimmste Fall. Er hatte auch Berichte über Ghule gelesen, die als Absolute Einzelgänger lebten und ihre sozialeren Brüder und Schwestern sowohl in körperlicher Stärke, aber auch in Aggressivität und Hunger noch bei weitem übertrafen. In diesem Fall würde Bo vermutlich als schneller Snack zwischendurch enden, wenn ihm nichts einfiel.
Wenn er sich nicht irrte, waren Ghule so gut wie blind, also konnte er vielleicht versuchen, sich an ihm vorbei zu schleichen, ohne bemerkt zu werden. Der Plan wirkte verrückt, war aber doch besser, als zu versuchen, sich mit dem Messer einen Weg zu erkämpfen.
Er danke seinem Vater dafür, dass er ihn, soweit er sich erinnern konnte, so verantwortungsbewusst und rational erzogen hatte. Während andere Kinder gespielt hatten, hatte er in seiner Kindheit auf Geheiß seines Vaters Bücher gelesen und erste kleine naturwissenschaftliche Berichte studiert. Seinem Vater war nicht daran gelegen gewesen, ihn in eine berufliche Richtung zu drängen, hatte aber immer betont, wie wichtig es für ihn einst sein würde, mehr über die Welt zu wissen, als andere. Auch, wenn er als Kind darüber oft geflucht hatte und nur zögerlich Folge geleistet hatte, zahlte sich das Wissen nun tatsächlich aus. Allerdings war akademisches Wissen in Momenten wie diesem auch nicht eben die ganze Miete.
All seinen Mut zusammennehmend zwängte er sich durch den schmalen Spalt an der Tür vorbei. Fünft Stufen unter ihm lag ein länglicher Innenhof, der mit Müll und menschlichen Überresten übersät war. Scheinbar lebte der Ghul, der auf dem Boden am Fuße der kurzen Eingangstreppe hockte, hier schon längere Zeit.
Sein Verdacht, sich zumindest in der Nähe Ghul Towns zu befinden erhärtete sich, als er nach oben blickte. Statt eines Himmel wurde der Hof von einem gigantischen Gewölbe überspannt, was auch die Tatsache erklärte, dass kein Licht durch die Oberlichter der Fabrikhalle zu sehen gewesen war. Nach etwa 50 Metern knickte der Hof nach rechts ab und er konnte eben noch eine Straße erkennen, die von flackernden Laternen spärlich beleuchtet wurde. Seinen Studien über den Megaplex zu folgen, musste er sich auf Ebene 1 befinden, also über dem eigentlichen Ghul-Gebiet. Was er vor sich sah, waren die Überreste des ursprünglichen Gelsenkirchen, dessen obere Ebenen dem Megaplex angehörten. Ghul Town selbst war wenig mehr, als die Kanalisation der früheren Stadt. Ein dunkles Wirrwarr aus Kanälen und Tunneln.
Wenn er es lebendig bis zur Straße schaffte, hatte er vielleicht doch noch eine Überlebenschance. Innerlich fluchend quetschte er sich unter dem Geländer der Treppe hindurch und ließ sich seitlich davon zu Boden. Irgendwie musste er zugenommen haben. Das Geländer sollte normalerweise für einen Jungen seines Alters kein ernsthaftes Hindernis darstellen. Wie so oft in der jüngeren Vergangenheit schob er diesen Umstand auf die Nachwirkungen dessen, was mit ihm geschehen war und der Desorientierung.
Behutsam schob er sich vorwärts, bis er über die Stufen blicken konnte. Der Ghul saß mit dem Rücken zu ihm und war immer noch lautstark mit seiner ekelerregenden Mahlzeit beschäftigt.
Ein paar Meter vor ihm stand ein großer metallener Müllcontainer, der ihn vor den Blicken des Ghuls verbergen sollte, für den Fall, dass seine Informationen über dessen annähernde Blindheit sich als falsch erweisen sollten.
Ohne es zu merken, hielt er die Luft an und schlich an der Wand entlang auf den Metallbehälter zu.
Während er sich tief in den Schatten duckte, den der Container im schwachen, flackernden Licht warf, das in den Hof drang, fiel ihm das erste Mal bewusst auf, dass er eigentlich unter diesen Bedingungen nichts hätte sehen dürfen. Und doch konnte er von seiner Deckung aus fast den gesamten Hof überblicken. Alles schien für ihn in warme Rot- und Brauntöne getaucht zu sein, während die Wände der Gebäude, die um ihn herum aufragten, das Licht förmlich zu schlucken schienen und tiefschwarz wirkten. Auf den ihren Oberflächen konnte er aber so etwas wie dunkelblaue Schlieren erkennen, die auf eigenartige Weise in Bewegung zu sein schienen. Auch in der Luft über ihm bewegten sich eigenartige Wolken von unterschiedlicher Helligkeit. Irgendetwas schien an seinen Augen merkwürdig zu sein, aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Wenn er es nicht schaffte, sich aus seiner Deckung bis an die Ecke zu schleichen, an der der Hof in Richtung Straße abknickte, war überhaupt nichts mehr wichtig.
So leise wie möglich verließ er seine Deckung und kroch mehr, als dass er aufrecht ging auf einen Stapel halb verrotteter Kartons zu, die an der gegenüberliegenden Häuserwand aufgetürmt waren. Wenn er sie erreichen konnte, würde er in ihrem Schutz bis an die nächste Ecke und damit in Sicherheit kommen. Wenn der Ghul sich nicht in diesem Augenblick umsehen würde, konnte er ihn eigentlich kaum noch entdecken.
Er konnte sein Glück kaum fassen, als er sah, dass der Ghul sich zwischenzeitlich umgedreht hatte und großes Interesse an der verkeilten halb geöffneten Tür zeigte, durch die Bo eben das Gebäude verlassen hatte. Da er ihn nicht zur Kenntnis zu nehmen schien, richtete der Junge sich etwas weiter auf und ging einen Schritt schneller auf das nächste Versteck zu. Als er es erreichte und sich dahinter wieder duckte, scheuchte er dabei einige Ratten auf, die sich lautstark über die Störung beschwerten und über den Hof zu schwirren begannen.
Der Ghul schien das Interesse an der Tür zu verlieren und wandte sich einigermaßen schwerfällig zu der Quelle des Lärms um. Für einen Moment stand er einfach still da. Bo, der innerlich fluchend in seinem Versteck hockte und versuchte keinen Laut zu verursachen, lauschte angestrengt auf Reaktionen des Monsters.
Mit einem Mal griff der Ghul sich einen nagelbewehrten Knüppel, der sicherlich fast so groß war wie Bo, setzte sich in Bewegung und rannte auf seine Deckung zu.
Sein erster Hieb schleuderte den Großteil der Kartons in alle Richtungen davon und die riesige Keule pfiff wenige Zentimeter über Bos Kopf hinweg. Der Junge warf sich herum und versuchte ungeschickt, sich in die Höhe zu stemmen. Dabei glitt er ungeschickt auf einem Stück Karton aus, auf das er dabei einen Fuß setzte. Jetzt laut fluchend rutschte er ab und rollte zur Seite, was ihm erneut das Leben rettete. Der Schlag der Keule, der unmittelbar neben ihm senkrecht von oben geführt den Boden traf, war mit einer solchen Gewalt geführt, dass sogar die unbändige Kraft des Ghuls nicht ausreichte, die Keule zu halten. Sie sprang ihm aus der Hand und rollte polternd ein paar Meter zur Seite.
Sein eigenes Ungeschick schien die Raserei des Ungetüms nur noch zu verstärken, den er stieß einen gurgelnden Schrei aus, bei dem ihm eitriger Geifer aus dem Maul am Hals herunter ran und warf sich mit einem hängenden und einem zupackenden Arm auf den Jungen. Er unterschätzte dabei aber eindeutig seine eigene Geschwindigkeit, denn seine Attacke ging wieder ins Leere. Bo hatte den Zeitpunkt des Zupackens abgeschätzt und war mit einer Rolle rückwärts zwischen den Beinen des Ghuls hindurch ausgewichen. Jetzt da er hinter dem Ghul auf dem Rücken lag, während dieser breitbeinig und weit nach vorne gebeugt dastand, sah er seine Chance. Mit aller Kraft trat er mit beiden Beinen nach der linken Kniebeuge des Infizierten. Diese Attacke hätte seinen Gegner zu Boden befördern müssen und ihm die Chance zur Flucht ermöglicht, wenn seine Beine nicht eigenartigerweise viel kürzer waren, als er kalkuliert hatte. Wenigstens konnte er den Schwung des Angriffs dazu nutzen, schwankend auf die Beine zu kommen und sich von hinten gegen seinen Gegner zu werfen, so dass dieser zu schwanken begann.
Bo drehte sich zur Seite weg und duckte sich unter dem brachial nach hinten geführten Schlag hinweg, mit dem sein Angriff beantwortet wurde und schaffte es ein paar Meter Distanz zwischen sich und sein Gegenüber zu bringen. Der Ghul, der durch Bos Rempler und die Wucht seines eigenen Schlags sichtlich mit dem Gleichgewicht kämpfte, würde noch ein oder zwei Sekunden brauchen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Diese Zeit musste einfach genügen. Bo rannte so schnell er konnte auf den Ausgang des Hofes zu, als er hinter sich ein feuchtes schmatzendes Krachen hörte. Als er sich im Laufen umdrehte, konnte grade noch sehen, wie der Ghul sich selbst seinen ohnehin funktionslosen Arm heraus riss und ihn ihm hinterher schleuderte. Aus einer Distanz von wenigen Metern war jeder Versuch, dem wirbelnden Geschoss auszuweichen, zum Scheitern verdammt, als versuchte Bo sich bestmöglich auf den Aufprall vorzubereiten. Der Schlag, mit dem der metallene Arm ihn traf, war allerdings weit mehr, als sein geschwächter Körper zu verkraften imstande war. Er hatte sich in den Wurf hinein gedreht und versucht, den Arm an sich vorbei zu stoßen. Die Kraft des Aufpralls jedoch ließ seine Arme einknicken, wodurch der Arm ihn voll in die Magengrube traf, ihm alle Luft aus den Lungen presste und ihn rücklings zu Boden schleuderte.
Für eine Sekunde tanzten bunte Lichter vor seinen Augen und er rang um Luft. Als seine Sicht sich wieder klärte, stand der Gegner bereits über ihm.
In Panik schob er sich rückwärts, bis er plötzlich mit dem Rücken an einer Wand stieß. Hier war seine Flucht wohl beendet. Der Ghul beugte sich sabbernd über ihn und wollte ihn packen. Bo stieß einen Angstschrei aus uns riss dabei die Arme vors Gesicht.
Dann geschah etwas, dass die Ereignisse der letzten Zeit fast schon als gewöhnlich hätte erscheinen lassen können. Er spürte ein Kribbeln in seinen Armen, dass sich in seinen Fingerspitzen zu konzentrieren und zu verstärken schien. Dann sah er kurz ein blendendes Licht durch seine geschlossenen Lider und roch einen scharfen Geruch, der nur von verbranntem Fleisch herrühren konnte und mit einem starken Beigeruch von Ozon durchsetzt war.
Als er die Augen öffnete sah er, wie das Ungeheuer sich an die Brust griff und einige Schritte von ihm weg taumelte, während es schmerzerfüllte und angsteinflössende Schreie von sich gab. Das Bild verschwamm für einen Wimpernschlag vor seinen Augen und er spürte Schweißperlen auf seiner Stirn. Mühsam stemmte er sich an der Wand hoch und merkte, was für weiche Knie er hatte. Doch die Panik verlieh ihm neue Kraft. Das Monster hatte entschieden, dass es mit einer Mahlzeit im Bauch auch noch weiter über die erlittenen Schmerzen würde nachdenken können und kam wieder auf ihn zu.
„In Deckung, Junge,“ Bo hatte Schwierigkeiten einzuordnen, von wo genau der Ruf gekommen war, aber er ließ sich instinktiv auf die Knie fallen und rollte sich an der Wand entlang von dem Ghul weg.
Dessen Aufmerksamkeit verlagerte sich jetzt auf ein Ziel, dass sich offenbar hinter Bo befand. Er beugte sich nach vorne, bleckte seine Zähne und stieß erneut einen markerschütternden Schrei aus.
Im selben Augenblick wurde das Wesen durchgeschüttelt und überall auf seiner Brust begannen kleine Blutfontänen zu tanzen. Der furchteinflößende Ton in seiner Stimme verwandelte sich mit einem Mal in Panik und Schmerz. Er versuchte der Gefahr zu entkommen, indem er sich umwand und auf den metallenen Container zu wankte, der kurz zuvor noch Bo als Deckung gedient hatte.
Dann ertönte ein sattes Ploppen und der Kopf des Ghuls zerbarst in einer amorphen Wolke aus Splittern und Blut, als die Granate in ihn einschlug. Der Körper streckte noch einen Moment lang die Hand der rettenden Deckung entgegen, ging dann aber in die Knie und kippte zur Seite um.
Auch, wenn er nicht mehr daran geglaubt hatte, war Bo tatsächlich gerettet worden. Jedenfalls fürs Erste.
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