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Verraten und verkauft - Teil 1 |
Kapitel 1: Allein in der Dunkelheit
Wuppertal, 21. September 2045
Ganz langsam und zäh wie ein dickflüssiger Sirup glitt das Bewusstsein in seinen Körper zurück. Lange Zeit lag er einfach nur da und versuchte, die wirren Eindrücke ein wenig zu sortieren.
Es gab einiges, an das er sich erinnerte, aber zwischen den Informationsfetzen klafften große Lücken, so dass es sehr schwer war, darin eine Art Gesamtbild zu erkennen.
Nach einer Weile gab er frustriert den Versuch auf, Ordnung in das Chaos zu bringen, dass in seinem Kopf herrschte. Statt ohne Anhaltspunkte in dem Herumzustochern, was ihm von seiner Vergangenheit geblieben war, lenkte er seine Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt. Auch da sah die Situation für ihn wenig angenehmer aus.
Seine Glieder schmerzten erbärmlich, so als hätte er tagelang in einer Streckbank verbracht und sein Brustkorb fühlte sich an, als drohe er, von innen heraus zu platzen. Seine Haut schien an Dutzenden von Stellen aufgeschürft zu sein, so dass es allgemein schwer war, einen bestimmten Fleck zu erfühlen, von dem tatsächlich Schmerzen ausgingen. Und über all diesem Ungemach thronten unsägliche Kopfschmerzen, die ihn fast das bisschen Verstand zu kosten drohten, dass ihm noch geblieben war.
Obwohl Zeit für ihn im Moment eine nicht zu messende Größe darstellte, besorgte ihn aus irgendeinem Grund die Tatsache, dass er nicht wusste, wie lange und vor allem wo genau er gelegen hatte.
Als er sich unter Stöhnen auf den Bauch rollte und sich auf Hände und Knie hoch drückte, war er überrascht, wie leicht das für ihn war.
Er versuchte die Augen zu öffnen, bereitete sich aber darauf vor, sie sofort wieder zu verschließen. Als der erwartete Schmerz ausblieb, blinzelte er ein paar Mal und öffnete schließlich ganz die Augen.
Der Schmerz, den er erwartet hatte war ausgeblieben, da der Raum um ihn herum fast vollkommen Dunkel war. Bei genauerem Betrachten, erwies sich die Dunkelheit auf eine schwer greifbare Art als eigenartig. Es war, als entstamme das schwache Licht, dass den Raum um ihn herum erfüllte aus einem Spektrum, dass er in seinem Leben noch nie zuvor gesehen hatte. Außerdem konnte er es keiner bestimmten Quelle zuordnen, da er in seinem Blickfeld nichts ausmachen konnte, dass in irgendeiner Weise dazu geeignet schien, Licht zu verbreiten.
Dieser Absonderlichkeit folgte auch gleich die nächste. Vielleicht lag es an dem seltsamen Licht, in das der Raum getaucht war, aber irgendwie schien seine Perspektive falsch, als er sich mühsam auf die Beine quälte. Es wirkte fast so, als sei der Raum für Riesen gemacht worden und nicht für normale Menschen.
Er band sich scheinbar in einer alten Fabrikhalle. Der Boden war übersät mit Schmutz, Metallteilen, die anscheinend einmal die Funktion der zahllosen von Rost zerfressenen Maschinen gewährleistet hatten und alten Kartons, die größtenteils aufgerissen oder zerdrückt überall herumstanden. Über ihm liefen mehrere Stege und Galerien unterhalb der Decke entlang, die aber für eine normale Fabrik viel zu weit entfernt erschienen. Und auch die Türen an den Seiten, sowie das große Doppeltor an der ihm gegenüberliegenden Stirnseite der Halle, schienen eher für Titanen denn für Normalsterbliche gemacht worden zu sein.
An der Hallendecke waren reihenweise große Oberlichter, hinter denen er aber nur tiefe Schwärze erkennen konnte. Sie waren also auch nicht die Quelle des seltsamen Lichtes um ihn herum.
Verwirrt ging er ein paar Schritte in einer zufällige Richtung und fuhr sich mit den Händen durch Gesicht und Haar, um es etwas vom Staub zu befreien und klarer zu werden. Als seien die letzten Momente nicht schon überraschend genug gewesen, stellte er fest, dass seine Wangen und sein Kinn kurze Stoppeln aufwiesen, von denen er fast sicher war, dass sie nicht dahin gehörten. Auch die Kleidung, die er trug, kam ihm nicht im Geringsten bekannt vor. Es handelte sich um einen zerschlissenen orangefarbenen Overall und ein paar einfache schwarze Stiefel. Der Overall war an vielen Stellen gerissen und gewährte ihm ein paar Ausblicke auf die blauen Flecken und Aufschürfungen, von denen wohl ein Großteil seiner Schmerzen herrührte.
In den vielen Taschen fand er nichts, was Aufschluss auf seine Identität gab, oder ihm einen Anhaltspunkt darauf lieferte, wo er sich befand oder warum. Er fand lediglich ein scharfes Messer mit einer etwa handlangen doppelt geschliffenen Klinge in einer Tasche an seiner linken Wade, ein neu aussehendes Feuerzeug und eine gefaltete Karte des Rhein-Ruhr-Megaplexes in einer der Brusttaschen.
Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sein körperlicher Zustand zwar jämmerlich war, aber er wohl keine unmittelbar lebensbedrohlichen Verletzungen bei, was auch immer ihm widerfahren war, davon getragen hatte, entschied er sich, seine Umgebung näher in Augenschein zu nehmen.
Er ging auf die erstbeste der alten Produktionsmaschinen zu und musste feststellen, dass sein Entfernungsempfinden wohl auch zu den Dingen gehörte, die irgendwie in Mitleidenschaft gezogen worden waren, denn er brauchte weit mehr Schritte, um sein Ziel zu erreichen, als er erwartet hatte.
Die Maschine war wohl einmal eine Art Abfüllmechanismus gewesen, denn sie war mit einigen Fließbändern verbunden. Heute jedoch war sie nichts weiter als ein großer Haufen Schrott. Die mechanischen Arme, die wohl einmal die Produkte in Position gebracht hatten, waren entweder verbogen, verrostet oder fehlten schlicht ganz. Eines der Fließbänder endete nach etwa 2 Metern einfach mitten in der Luft. Von dem Teil, der mit den losen Kabeln und den herabhängenden Antriebsketten verbunden gewesen war, fehlte jede Spur. Über der ganzen Apparatur lag eine dicke schmierige Schmutzschicht, die darauf schließen ließ, dass die Produktion in dieser Fabrik wohl schon vor sehr langer Zeit aufgegeben worden war.
Für eine Weile streifte er ziellos umher, fand aber weder wesentliche Anhaltspunkte auf den genauen Ort oder die Funktion der Anlage, noch irgendwelche Gegenstände, die sich irgendwie als verwertbar oder gar nützlich erwiesen. Also beschloss er, dass es an der Zeit war, diesen Ort zu verlassen. Zwar fühlte er sich immer noch benommen, aber irgendetwas in seinem Hinterkopf riet ihm zur Eile.
Da jede Tür so gut war wie die andere und er nicht glaubte, dass große Haupttor auch nur ansatzweise bewegen zu können, öffnete er wahllos eine der Türen neben der Maschine, die er zuerst untersucht hatte.
Dahinter lag einer schmaler dunkler Gang, der von demselben eigenartigen Licht erfüllt war, wie die Halle. Alles schien irgendwie in Fehlfarben dargestellt und von einer Quelle angeleuchtet zu sein, die von keinem bestimmbaren Ort auszugehen schien. Außerdem stank es geradezu erbärmlich nach Exkrementen und Tod in dem Korridor.
Für einen Augenblick erwog er, die Tür zuzuschlagen und einen anderen Ausgang zu suchen, entschied sich aber dagegen. Da er nicht ausschließen konnte, dass sich eine der anderen Möglichkeiten als bessere Wahl erweisen würde und er hier immerhin einen Weg gefunden hatte, der ihn weit von der Halle wegführte und von dem keine unmittelbare Gefahr auszugehen schien, unterdrückte er den jäh aufwallenden Brechreiz, der ihn erfasst hatte und ging ein paar schnelle Schritte in den Gang hinein.
In der Dunkelheit des Ganges verlor er schnell jegliches Zeit- und Entfernungsgefühl. Zu Beginn hatte er noch viele der Seitentüren des Ganges untersucht, doch irgendwann hatte er es aufgegeben. Viele der Türen waren entweder verschlossen oder ihre Schlösser und Scharniere waren so stark verrostet, dass sie sich einfach nicht öffnen ließen. Die wenigen Türen, die er auf bekam, führten lediglich in kleine Räume, die entweder leer oder über und über mit Müll vollgestopft.
Nachdem er sich entschlossen hatte, die Türen zu ignorieren, kam er um Einiges schneller voran, so dass er relativ schnell das Ende des Ganges erreichte. Nun stand er vor einer Glastür, die aber vor lauter Schmutz vollkommen undurchsichtig geworden war.
Als er die Klinke herunterdrückte, glitt die Tür zu seiner Überraschung tatsächlich, ohne großen Widerstand, einen Spalt weit auf und verkantete sich dann, so dass sie sich nicht mehr bewegen ließ.
Er zwängte seinen Kopf durch den Spalt, unterdrückte augenblicklich einen Schrei und zog sich hastig wieder zurück.
„Bo. Luke. Schnallt euch bitte endlich an, damit wir losfahren können,“ Bos Vater blickte die beiden streng durch den Rückspiegel an und startete den Motor des alten SK Tuareg. Die Mutter der beiden saß auf dem Beifahrersitz und kicherte still in sich hinein, da sie das Verhalten ihrer Söhne wohl eher belustigend denn störend fand.
Tatsächlich hingen die beiden über die Lehne der Rückbank halb im Kofferraum. Luke hatte dabei Bos Kopf unter seinem Arm eingeklemmt, während dieser wiederum dessen Bein umschlungen hielt und ihm den Fuß umdrehte, was seinem Bruder offenbar große Schmerzen bereitete, denn der Schweiß auf seiner Stirn schien nicht alleine von der Anstrengung herzurühren, seinen knapp 8 Jahre jüngeren Bruder im Schwitzkasten zu halten.
„Aber Dad, Bo hat angefangen. Er hat schon wieder...,“ mit einer Handbewegung brachte sein Vater ihn zum Schweigen und verwies die beiden erneut auf ihre Plätze.
Die beiden trennten sich voneinander und Luke gab Bo einen Schubs, der ihn auf seine Seite der Sitzbank warf, was dieser mit einem Tritt gegen Lukes Schienbein quittierte.
„Jetzt ist es genug ihr beiden. Das ist ja nicht zum Aushalten. Lernt, euch wie zwei anständige Heranwachsende zu benehmen. Vor allem du Luke. Versuch doch wenigstens mal für einen Moment, deinem Bruder ein besseres Vorbild zu sein. Was soll das nur werden, wenn du deine Ausbildung in zwei Monaten abgeschlossen haben wirst? Denkst du, der Konzern wird jemanden wie dich lange beschäftigen wollen? Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen“
Beleidigt lehnte Luke sich zurück, starrte demonstrativ aus dem Fenster und rieb sich das Schienbein.
Charles Rengar schüttelte noch einmal den Kopf und fuhr los. Seine Frau Susanne drehte sich grinsend zu ihren Söhnen zu, legte einen Finger über die Lippen und zwinkerte den beiden verschwörerisch zu. Die beiden schauten sich kurz gegenseitig an und mussten schließlich selbst grinsen. Wie so häufig galt der Hauptzweck ihrer Streiterei in erster Linie darin, ihren Vater an den Rand des Wahnsinns zu bringen.
Der schwarze Wagen löste sich vom Straßenrand und ordnete sich in den fließenden Verkehr ein. Die Familie machte sich auf den Heimweg von einem Tagesausflug.
Obwohl Susanne Rengar die Saeder-Krupp-Arkologie in Essen ungern verließ und bei jeder Gelegenheit betonte, dass es dort auch alles gäbe, dass man sich draußen anschauen könne, nur eben in sauberer Ausführung, hatte sie doch wie immer letztendlich ihren Spaß gehabt. Susanne Rengar war ein geborenes Kind der Konzernkultur des 21. Jahrhunderts. Sie hatte praktisch ihr ganzes Leben im behütenden Schoß ihres Konzerns verbracht und von der Welt außerhalb der Mauern ihrer heimischen Arkologie wenig zu Gesicht bekommen.
Ihr Mann Charles war da anders. Er hatte während seiner Ausbildungszeit und späteren Berufsleben in mehreren Konzernen und etlichen Niederlassungen gearbeitet. Allgemein hin galt ein häufiges Wechseln des Arbeitgebers bestenfalls als unorthodox und führte meist in einer soziale Isolation und eine Karrieresackgasse. Konzerne vertrauten Konzernwechslern selten sensible Aufgaben an, es sei denn der Konzernwechsel wurde von ihnen selbst aus bestimmten Gründen veranlasst.
Da bildete Charles Rengar aber eine Ausnahme. Er war nicht nur ein naturwissenschaftliches Genie, sondern obendrein auch noch ein aktiver hermetischer Magier. Während andere nach Niederlegung eines Jobs schwere Probleme hatten, in der Konzernwelt wieder Fuß zu fassen, konnte er sich kaum vor Angeboten retten. Zu diesen Qualifikationen kam noch ein hohes Maß an Verschwiegenheit und eine Teamfähigkeit hinzu, die ihn auf dem Arbeitsmarkt zu einem sehr begehrten Gut machten.
Alleine die Tatsache, dass er bei Saeder-Krupp seine Frau kennengelernt hatte, hatte ihn seinerzeit dazu bewogen, sich dauerhaft bei dem Konzern niederzulassen.
So hatte er in der Hauptniederlassung des größten Konzerns der Welt eine dauerhafte Heimat gefunden, obwohl Deutschland für ihn dauerhaft eigentlich nie in Betracht gekommen war. Durch Katastrophen wie die schwarze Flut, den GAU im AKW Cattenom, sowie die Eurokriege und das Zersplittern der ehemaligen Bundesrepublik, war das Land arg in Mitleidenschaft gezogen worden und wirkte für ihn eigentlich nicht besonders attraktiv. Er selbst war gebürtiger Engländer und wie die meisten Briten seiner eigenen Heimat sehr zugetan. Aus Liebe zu seiner Frau jedoch hatten seine Prioritäten sich grundlegend geändert.
Deshalb regte er auch immer diese Ausflüge in andere Teile des Plexes oder gar noch weiter weg an. Wenn er schon in diesem Land lebte, sagte er immer, wolle er es sich auch mal aus der Nähe anschauen und sehen, was hinter dem Trideo noch alles sehenswert sei.
Und tatsächlich hatte er für das Land und seine Leute inzwischen eine tiefe Sympathie entwickelt. Gerade der Rhein-Ruhr-Megaplex vereinte derart viele Gegensätze in sich, wie kaum ein Gebiet. Hier lebten die Ärmsten der Armen direkt im Schatten der Neonlichter der großen Konzernarkologien. Einige Plex-Teile, wie eben das ehemalige Essen oder auch Bochum erstrahlten im Glanz des neuen Reichtums an Technologie und Kultur, dass die Welt des 21. Jahrhunderts bestimmte, während andere Gegenden wie Gelsenkirchen oder Wuppertal von Armut, Verzweiflung und Trostlosigkeit regiert wurden. Und mit der Armut ging die Kriminalität einher. Manche Orte wurden sogar von Polizei und Sicherheitsdiensten gemieden, wenn es sich irgendwie einrichten ließ.
Genau ein solcher Ort lag unmittelbar unter ihnen.
Nachdem das ehemalige Wuppertal in mehreren Ebenen vollständig überbaut worden war, hatten sich unter der Oberfläche mit ihren neuen Wohnsiedlungen und Einkaufszentren mehrere Schichten gesellschaftlichen Elends etabliert. Diese wurden umso schlimmer, je weiter man nach unten, in Richtung des als Ebene 1 bekannten ursprünglichen Wuppertals, vordrang. Gerüchten zufolge lag sogar darunter noch eine Ebene, die den inoffiziellen Namen Ebene 0, oder auch Zombie Town trug und überwiegend von MMVV-Infizierten war, jener mysteriösen Infektion, die Menschen und Metamenschen in fleischfressende Monstrositäten verwandelte, die das Sonnenlicht fürchteten und in der Nacht Jagd auf ihre ehemaligen Mitbürger machten.
Zombie Town. Dort musste er sein, wurde Bo klar. So wie er sich an seinen Namen und seine Familie erinnern konnte, war ihm auch klar geworden, wo er sich befinden musste. Der relativ sichere Beweis dafür hockte auf der anderen Seite der Tür, hinter der er sich jetzt versteckte und nagte an etwas, das wie ein metamenschlicher Beinknochen aussah.
Wenn er sich nicht in der als Zombie Town bekannten Ebene unter dem Teil des Rhein-Ruhr-Megaplexes befand, dann auf jeden Fall an einem Ort, der Ebene 0 sehr ähnlich war.
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